Offenheit. Jaqueline Scheiber
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Ich möchte mit der Annahme aufräumen, die offensive Selbstdarstellung sei eine narzisstische Störung, die Versinnbildlichung eines egozentrischen Weltbilds oder rühre von einem übersteigerten Selbstbild her. Ganz im Gegenteil erwuchs sie bei mir aus einer Reihe an Unsicherheiten. Ich möchte das Vorurteil beseitigen, dass Menschen, die ihr Privatleben nach außen tragen, nicht mehr privat seien. In den vergangenen Jahren habe ich eine harte Schule durchlaufen, um die Grenzen zwischen dem Schreiben und dem Gelebten zu versetzen, anzupassen und letztlich für mich und mein Leben zu adaptieren.
Ich werde die Einschnitte und Wegmarken meines Lebens nutzen, um zu veranschaulichen, wie Offenheit entstehen kann und welche Wellen sie schlägt. Um zu zeigen, dass das gesamte Leben dem Bild der Wellen sehr nahekommt. Nicht umsonst fühlen wir Menschen uns dem Wasser derart verbunden, es liegt in unserer Natur. Wir bestehen zu einem Großteil aus Wasser, fühlen mit Seen und Flüssen oder dem Meer eine tiefe Verbundenheit. Die Bewegung der Wellen hat etwas Beruhigendes. Was ich beschreibe, mag an manchen Stellen ungemütlich sein, aber gerade dadurch entsteht ein neuer Habitus inmitten einer Gesellschaft, in der es vielen immer noch schwerfällt, offen zu sprechen. Ich bin ein ungeduldiger Mensch. Das macht meine Entscheidungen nicht unüberlegt, es verringert bloß die Distanz zur Umsetzung.
Ich habe in meinem jungen Leben viel Schönes und gleichermaßen Hässliches erfahren. Ich übersetze diese Erlebnisse in eine Sprache, von der ich mich nicht mehr befreien möchte. Was sich dank ihr abzeichnet, ist eine Route durch die Beschaffenheit meiner Innenräume: mein Weg zur Offenheit. Was ich anhand biografischer Einschnitte und Erlebnisse beschreibe, sind Eckpunkte und Möglichkeiten, die sich uns allen darbieten können. Nicht Jede*r wird sich damit identifizieren können oder gar davon profitieren, ich habe das Rad nicht neu erfunden. Die folgenden Seiten sind lediglich ein Beispiel dafür, wie es auch funktionieren kann: sich einzufinden in eine oftmals nicht vollends nachvollziehbare Ordnung, genannt Leben. Ich lade dazu ein, mich kennenzulernen. Dort, wo die Hautoberfläche ganz dünn zusammenläuft und nicht reißt. Genau dort, wo ein kühler Windstoß oder eine Berührung die Härchen aufstellt und über unsere Nervenbahnen ins limbische System gerät. Dort, wo wir etwas empfinden.
Und genau hier beginnt die Reise, die Seite für Seite auch die Möglichkeit bietet, sich selbst aufzublättern, sich zu begegnen und mit einem Luftzug die Tür zu einer anderen Welt, einer anderen Erfahrung einen Spaltbreit zu öffnen.
Den Grundriss verstehen
Es beginnt in einer kleinen 50-Quadratmeter-Wohnung im Burgenland. Ich lebe dort mit meiner Mutter, wir sind erst vor Kurzem wieder umgezogen, das kommt in meinem Leben damals oft vor. Computer und Internet halten Einzug in die Haushalte, und auch ich logge mich das erste Mal, begleitet von krächzenden und piepsenden Geräuschen, in das vor mir liegende Netzmeer ein. Mit Freund*innen verabrede ich mich in Chatrooms. Anonym öffnet sich ein Tor zu einer Welt, die einen Dialog mit Fremden ermöglicht. Das birgt für ein junges Mädchen viele Gefahren, doch auch eine wesentliche Chance: Mitteilung.
Ich verspüre früh das Bedürfnis, mich auf verschiedenen Online-Plattformen darzustellen, eine Parallelidentität zu schaffen, die es mir ermöglicht, andere Aspekte meiner Persönlichkeit auszuleben. Aspekte, die im engen Rahmen eines burgenländischen Dorfs keinen Platz finden. Ich entdecke das Internet in seiner Vielfalt, Social Media in ihren Anfangsstadien. Kaum ein Portal bleibt von mir unberührt, unentdeckt, unbewandert. Ich komme mit den unterschiedlichsten Lebensrealitäten in Berührung, knüpfe Freundschaften und finde immer Ansprache, wenn ich sie brauche.
2010 erfahre ich, was das Konzept eines Blogs ist. Eine eigene Seite, die Bilder, Texte, Videos oder was auch immer man zeigen möchte, zusammenträgt. Minusgold entsteht, in einer Nacht kurz nach Silvester. Ich erinnere mich exakt an die ersten unbeholfenen Gedichte, die ich voller Scham und Furcht auf meine Seite lade. Das Schreiben unter dem Pseudonym wird mein täglich Brot, es ist beinahe eine Sucht, Worte zu finden und diese in Lyrik und Prosa zu betten. Über zweitausend Texte ruhen heute digital in einem öffentlichen Archiv. Sie sind der Grundstein für die spätere Selbstverständlichkeit, mit der ich mich meiner Sprache bediene. Ich erhalte erste Rückmeldungen von völlig fremden Menschen außerhalb meines persönlichen Umfelds auf mein Schreiben, werde zu Lesungen eingeladen und veröffentliche 2012 sogar ein Buch im Selbstverlag mit gesammelten Werken. Und ich spüre: Es ist wieder meine Art, mich der Welt offenzulegen, die mich an neue Orte bringt, bereichernden Austausch ermöglicht und wachsen lässt.
Ich bin eine Sammlerin. Keine, die ihre Sammlung in ihrem Kämmerchen verwahrt und katalogisiert, nein. Ich stelle sie aus. Ich schreie sie von der Mitte des Marktplatzes. Dabei ist es weniger wichtig, in welcher Form ich mir Gehör verschaffe, als dass ich gehört und gesehen werde. Ich möchte mich nach außen kehren, um damit eine Stelle zu markieren. Eine Stelle, an der sich eine Gemeinschaft festhalten und einordnen kann, die ähnliche Ansichten vertritt. Mein Marktplatz ist das Internet. Meine Sammelleidenschaft bezieht sich auf alltägliche Momente, die ich mit Bildern und Worten versehe. Die heutige Zeit gibt mir die Möglichkeit dazu, mich zu äußern, to put myself out there, wie man im Englischen sagt.
Durch meine Sammlung zu wandern bedeutet für die Besucher*innen, einen Bildschirm herunterzuscrollen. Es bedeutet, mit dem Zeigefinger auf Pixel zu tippen und einzutauchen in eine Welt, die ich gestaltet habe. Eine Teilrealität, die sich wie ein Lichtspiel über meinen Alltag legt und durch Filter gebrochen wiedergibt, was ich sehe. Manche Menschen finden das befremdlich. Finden es wundersam, dass jemand Privates der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Gerade bei den unbequemen Themen, wie meiner Trauer, meinem Körperbild oder dem Umgang mit meiner psychischen Erkrankung erfahre ich hin und wieder Gegenwind. „Muss das sein?“ ist eine der Phrasen, die ich immer wieder zu hören bekomme. Ich gehe selten darauf ein, denn was muss schon sein? Was viel wichtiger ist: Es kann sein. Es kann sein, weil es mir hilft, meinen Platz in dieser Welt zu verorten. Weil es mir Orientierung gibt und die Sicherheit, meine Gedanken an verschiedenen – öffentlichen – Plätzen wiederzufinden.
Auf meiner Suche nach einer Rechtfertigung für meine Existenz, für meine Bedürfnisse und meine Bewältigungsstrategien bin ich auf einen Leitsatz gestoßen. „Tu, was immer ein Stück Linderung verschafft, solange es nicht anderen schadet.“ Was wie ein Kalenderspruch klingt, ist tatsächlich eine hilfreiche Anleitung, um mehr auf sich selbst und die eigene Intuition zu hören.
Wir werden mit einer Unmenge an Wertvorstellungen ausgestattet, die so unterschiedlich sind, dass es immer Menschen geben wird, deren Verhalten wir für unzulässig erachten. Auch ich bin nicht frei davon, andere zu bewerten, sie zu beurteilen. Menschen brauchen das, um sich zu orientieren. Die wesentliche Frage, die sich dabei stellt, ist: Wie gehe ich mit meinem Urteil um? Menschen an den Pranger zu stellen halte ich für falsch. Kritik ist berechtigt, sie ist ein wichtiges Tool, um Weiterentwicklung zu ermöglichen. Ich habe unzählige Kritiken für mein Tun erhalten; einiges konnte ich annehmen und ändern. Dabei ist es wesentlich, wie Kritik ausgesprochen wird. Gerade in der digitalen Welt ist der Umgangston sehr harsch und teilweise bedrohlich. Vor allem Frauen sind häufig mit Hass im Netz konfrontiert und werden für ihre Aussagen und Positionen massiv beleidigt