Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Charles Dickens
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Die ganze Bevölkerung von Rochester und den umliegenden Ortschaften stand am folgenden Morgen, sobald der Tag graute, in einem Zustande der höchsten Unruhe und Aufregung auf. Es sollte an diesem Tage eine große Musterung stattfinden. Das Falkenauge des Obergenerals sollte die Manöver von einem halben Dutzend Regimenter inspizieren: man hatte Festungswerke errichtet, die Zitadelle sollte angegriffen, genommen und eine Mine gesprengt werden.
Herr Pickwick war, wie unsere Leser aus dem kurzen Auszuge, den wir aus seiner Beschreibung von Chatam gegeben, gesehen haben, ein enthusiastischer Bewunderer des Heeres. Nichts konnte ihm einen höheren Genuß gewähren – nichts konnte mit den besonderen Gefühlen eines jeden seiner Gefährten so sehr übereinstimmen – wie ein solcher Anblick. Bald waren sie auf den Beinen und wanderten dem Schauplatz der Handlung zu, nach dem bereits von allen Seiten her eine ungeheure Menschenmenge strömte.
Alles deutete darauf hin, daß etwas höchst Wichtiges und Bedeutungsvolles vor sich gehen sollte. Es waren Wachen ausgestellt, um den Raum für die Truppen freizuhalten; besonders beorderte Leute trugen Sorge, den Damen Plätze auf den Batterien zu verschaffen; Sergeanten rannten mit Pergamentbänden hin und her, und Oberst Bulder galoppierte in vollständiger Uniform von einer Stelle zur andern, indem er seine Reiterkünste in den kühnsten Schwenkungen zur Schau trug und sich ohne einen besonderen Grund heiser und blau schrie. Offiziere flogen auf und nieder, sprachen mit dem Oberst, erteilten ihren Sergeanten Befehle und verschwanden zuletzt in den Reihen; sogar die Gemeinen sahen hinter ihren blanken Gewehrläufen so wichtig und geheimnisvoll aus, daß man über die hohe Bedeutung der Feierlichkeit keinen Augenblick im Zweifel sein konnte.
Herr Pickwick und seine drei Gefährten stellten sich in die vordersten Reihen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Das Gedränge nahm mit jedem Augenblick zu, und die Anstrengungen, die sie machen mußten, um sich auf ihren Plätzen zu behaupten, beschäftigten in den zwei folgenden Stunden ihre Aufmerksamkeit hinlänglich. Bald drängte plötzlich alles von hinten nach vorn, wodurch Herr Pickwick einige Ellen weit vorwärtsgestoßen wurde und dabei eine Hast und Geschmeidigkeit zur Schau stellte, die mit dem Ernst, den man an ihm gewohnt war, in grellem Widerspruch stand: bald ertönte ein gebieterisches »Zurück!« und das Ende eines Flintenkolbens fiel entweder auf Herrn Pickwicks Zehe nieder, um ihm den Wink verständlicher zu machen, oder stemmte sich gegen seine Brust, um dem Befehle augenblickliche Folge zu geben. Spaßvögel machten sich wohl auch das Vergnügen, mit der ganzen Fülle ihrer Kraft gegen Herrn Snodgraß anzudrängen und ihn dann wegen seines Drückens zur Rechenschaft zu ziehen, und wenn Herr Winkle seine höchste Entrüstung über eine solche Ungebühr aussprach, schlug ihm irgendein Schalk von hinten den Hut über die Augen und ersuchte ihn, seinen Kopf in die Tasche zu stecken. Diese und andere handgreifliche Witze, verbunden mit der unerklärlichen Abwesenheit Herrn Tupmans (der plötzlich verschwunden war), machten ihre Lage im ganzen weit eher unbehaglich, als angenehm und unterhaltsam.
Endlich lief ein Gemurmel durch die Menge, wie es gewöhnlich das Eintreten des Erwarteten bezeichnete. Aller Augen richteten sich nach dem Ausfallstor. Wenige Augenblicke gespannter Erwartung, und Fahnen flatterten lustig in der Luft: Waffen glänzten in der Sonne, und Abteilung um Abteilung rückte in die Ebene vor. Die Truppen machten halt und stellten sich in Reihe und Glied; das Kommandowort lief durch die Reihen: es ertönte ein allgemeines Flintengeklirre, als präsentiert wurde, und der Obergeneral, begleitet von Oberst Bulder und einer Menge anderer Offiziere, galoppierte die Front auf und nieder. Die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten sich und wedelten mit den Schweifen. Hunde heulten, die Menge schrie, die Truppen sammelten sich, und so weit das Auge reichte, sah man auf beiden Seiten nur eine endlose Reihe von roten Röcken und weißen Beinkleidern, starr und regungslos.
Herr Pickwick hatte soviel Mühe, in dem wogenden Gedränge seine Stellung zu behaupten und, wie durch ein Wunder, den Hufen der Pferde zu entgehen, daß er unmöglich Zeit fand, zu beobachten, was unter seinen Augen vorging, bis die Aufmarschentfaltungen soweit gediehen waren, wie wir soeben angegeben haben. Als er aber endlich fest auf den Beinen stand, kannte seine Freude und sein Entzücken keine Grenzen.
»Kann es etwas Schöneres, etwas Anziehenderes geben?« fragte er Herrn Winkle.
»Nein«, erwiderte der Angeredete, dem schon seit einer viertel Stunde ein kleiner Mann auf den Zehen stand.
»In der Tat ein großartiger, ein herrlicher Anblick,« sagte Herr Snodgraß, in dessen Brust plötzlich das Feuer der Dichtkunst entbrannte, »die tapferen Verteidiger des Vaterlandes in ihrer glänzenden Rüstung vor den friedlichen Bürgern zu sehen, mit ihren glühenden Gesichtern – nicht von kriegerischer Wildheit, sondern von gesitteter Artigkeit – mit ihren flammenden Augen – nicht von dem rohen Feuer der Raubgier oder der Rachsucht, sondern von dem sanften Lichte der Humanität und Intelligenz,«
Herr Pickwick ging völlig auf den Geist dieser Lobrede ein, konnte ihr jedoch nicht buchstäblich beipflichten: denn das sanfte Licht der Intelligenz brannte doch ziemlich schwach in den Augen der Krieger, als der Ruf ertönte: »Augen geradeaus!« Die Zuschauer hatten einige Tausend Sehorgane vor sich, die ohne allen Ausdruck geradeaus starrten.
»Wir befinden uns jetzt in einer herrlichen Stellung«, sagte Herr Pickwick, sich nach allen Seiten umschauend. Das Gedränge hatte sich aus ihrer Nähe verloren und sie waren beinahe allein.
»Herrlich«, wiederholten Herr Snodgraß und Herr Winkle.
»Was machen sie jetzt?« fragte Herr Pickwick, seine Brille aufsetzend.
»Ich – ich – glaube fast,« sagte Herr Winkle, die Farbe verändernd, »ich glaube fast, sie wollen schießen.«
»Unsinn«, versetzte Herr Pickwick hastig.
»Ich – ich – glaube wirklich, sie tun's«, sagte Herr Snodgraß etwas unruhig.
»Unmöglich«, erwiderte Herr Pickwick.
Aber kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da legte das ganze Halbdutzend Regimenter die Flinten an, als hätten sie alle ein und dasselbe Ziel – nämlich die Pickwickier, und gaben die fürchterlichste Salve, die je die Erde erschütterte oder einen alten Herrn aus dem Gleichgewicht brachte.
In dieser schreckensvollen Lage, auf der einen Seite dem Verderblichen Feuer blanker Musketen ausgesetzt zu sein, und auf der andern von den Truppen gedrängt, die ihnen auf den Leib rückten, zeigte Herr Pickwick die ganze Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, die von einem großen Geiste unzertrennlich sind. Er nahm Herrn Winkle am Arm, und sich zwischen ihn und Herrn Snodgraß stellend, bat er sie ernstlich, sich daran zu erinnern, daß, außer der Möglichkeit, durch den Lärm ihres Gehörs beraubt zu werden, vom Schießen unmittelbar nichts zu befürchten sei.
»Aber – aber – gesetzt den Fall, einer von den Soldaten würde sich zufälligerweise vergreifen und scharf laden?« bemerkte Winkle, ob dieser Besorgnis, die plötzlich seinen Geist bedrängte, erbleichend. »Ich habe ein Zischen gehört – ein starkes Zischen – hart an meinen Ohren.«
»Wir täten vielleicht besser, uns auf den Boden zu legen – meinen Sie nicht auch?« fragte Herr Snodgraß.
»Nein, nein – es ist vorüber«, antwortete Herr Pickwick. Seine Lippen bebten und seine Wangen erbleichten, aber kein Wort der Furcht oder Bestürzung entschlüpfte der Zunge des unsterblichen Mannes.
Herr Pickwick hatte recht: das Schießen hörte auf, aber kaum hatte er Zeit, sich wegen der Richtigkeit seiner Atmung Glück zu wünschen, als eine rasche Bewegung in den Reihen