Hinter dem Horizont. Petra Hillebrand

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Hinter dem Horizont - Petra Hillebrand

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die alte Frau war oft schon früh am Morgen unterwegs zum Gipfel. Wenn sie dann wiederkam, war sie gut gelaunt und hatte für alle eine stärkende Jause parat.

      Nach der Stärkung in der Hütte schulterten die Gipfelstürmer ihren Rucksack und wanderten los. Sie hatten viele Möglichkeiten, den Berg zu besteigen, und mussten sich für eine Variante entscheiden. Manche Wege waren steil, andere boten angenehme Rastplätze oder atemberaubende Ausblicke. Es gab moosbewachsene Pfade unter Bäumen und Wege, die über sonnenbeschienene Almwiesen führten. Manchmal waren auch Hindernisse wie reißende Bäche oder tiefe Schluchten zu überwinden. Alle, die unterwegs zum Gipfel waren, mussten ihrem Instinkt folgen. Denn Wegweiser gab es keine.

      Zur gegebenen Zeit kamen die Gipfelstürmer ans Ziel. Eines war aber eigenartig: Wann immer sie den Gipfel erreichten, die weise, alte Frau saß bereits oben und erwartete sie.

      Einen Wanderer wurmte das. Er hatte sich wochenlang auf diese Bergtour vorbereitet. Trotz seiner Kondition war er langsamer gewesen als die alte Dame. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!

      „Ich bin so gut vorwärtsgekommen und habe kaum eine Rast gemacht. Wie kann es sein, dass du trotzdem vor mir da warst?“, fragte er. „Es muss eine Abkürzung geben. Du hättest sie mir verraten sollen.“

      „Damit hätte ich dir keinen guten Dienst erwiesen“, antwortete die weise Frau. „Denn den Adler, der sich vor dir in die Lüfte erhoben hat, den hättest du dann nicht gesehen.“

      Da musste er ihr Recht geben. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr Wunder am Wegrand fielen ihm ein, die den mühsamen Aufstieg wert gewesen waren.

      Er zeigte ihr voller Stolz den Bergkristall, den er in einer Höhle entdeckt hatte. Und die weise Frau freute sich mit ihm, dass er auf seinem Weg etwas so Wertvolles gefunden hatte.

      „Warum zeichnest du keine Wanderkarten und verkaufst sie?“, fragte der Gipfelstürmer. „Du kennst diesen Berg besser als jeder andere. Durch deine Tipps hätte ich gewusst, in welche Richtung ich gehen muss, und hätte mir den anfänglichen Holzweg erspart. Ich hätte nicht umzukehren brauchen und wäre flugs oben gewesen.“

      „Das stimmt“, antwortete die weise Frau. „Schneller ans Ziel wärst du gekommen. Aber deinen Weg hättest du dann nicht gefunden.“

      BEIM NAMEN GERUFEN

      als Gott

      dich beim Namen rief

      folgtest du

      ihm nach

      um deinen Weg

      in seinem Namen

      zu vollenden

      DIE FRAGE

      Im Krankenhaus begleitete eine Krankenschwester ihre Patientin zum Arztzimmer. Weil es der Patientin so wichtig war, hatte die Krankenschwester ihr versprochen, während des ganzen Arztgesprächs dabeizubleiben. Die Ergebnisse der letzten Computertomographie waren da und der Arzt teilte sie der Patientin mit besorgter Miene mit.

      „Muss ich jetzt sterben?“

      Die Stimme der Patientin zitterte, aber ihr Blick war offen und klar.

      Der Arzt zögerte. Sollte er ihr die Wahrheit sagen? Dass er alles in seiner Macht Stehende getan hatte und sie trotzdem bald tot sein würde. Dass er Angst vor ihrer Verzweiflung hatte und dass er diese Ohnmacht kaum aushielt.

      Er atmete tief durch. Aber auf ihre Frage ging er nicht ein.

      „Wir könnten noch eine Therapie machen“, schlug er stattdessen vor. „Eine andere Chemotherapie, bei der Ihnen die Haare nicht ausfallen. Wir könnten es zumindest versuchen. Denn wir haben noch nicht alles ausgeschöpft.“

      Weil er dabei den Blick senkte, entging ihm, dass seine Antwort der Patientin keine Erleichterung brachte. Denn nun musste sie weiterkämpfen, obwohl sie unglaublich müde war. Einen Kampf, von dem sie gespürt hatte, dass er eigentlich schon verloren war. Aber konnte sie ihrem Gefühl jetzt überhaupt noch trauen?

      Vor allem aber war sie enttäuscht. Sie hätte sich so gewünscht, Mitgefühl in seinen Augen zu sehen, vielleicht sogar ehrliches Bedauern. Stattdessen signalisierte ihr sein Blick auf die Uhr, dass das Gespräch nun beendet war.

      Wieder eine Chance vertan, dachte sich die Krankenschwester, als sie die Patientin in ihr Zimmer zurückbrachte. Dabei hätte eine ehrliche Antwort so viel Positives bewirken können.

      VOM STERBEN

      vielleicht

      ist Sterben

      wie das Zittern

      das durch ein Blatt fährt

      ehe es sich

      loslöst

      von allem

      was ihm bisher vertraut war

      um sich

      ganz hinzugeben

      im freien Fall

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      TUNNEL INS LICHT

      In einer Salzwasserhöhle einer karibischen Insel lebte ein großer Fischschwarm.

      Ein Fisch in diesem Schwarm hieß Jerino. Er wollte wissen, wie es außerhalb der Höhle aussah. Aber keiner konnte es ihm sagen. Von Anfang an war ihm eingetrichtert worden, dass er an den Höhleneingängen gut auf sich aufpassen sollte. Beim hinteren Höhleneingang gab es nämlich einen gefährlichen Strudel. Schwamm ein Fisch zu nahe an ihn heran, wurde er mit solcher Kraft zurückgeschleudert, dass er gegen die Felswand prallte.

      Der vordere Höhlenausgang war aber noch viel gefährlicher. Er führte in den gefürchteten Tunnel ohne Wiederkehr. Kamen Fische in dessen Sog, wurden sie mitgerissen und waren für immer fort.

      „Wo diese Fische wohl gelandet sind?“, fragte sich Jerino.

      Der Schwarmälteste ließ betrübt die Flossen hängen. „Kannst du es dir denn nicht denken? Schau doch hin! Dann weißt du es.“

      Jerino schaute in die reißenden Fluten und hatte dabei ein mulmiges Gefühl. Aber dann fiel ihm etwas ein. „Es könnte doch sein, dass es dort, wo die reißende Strömung aufhört, viel schöner ist als bei uns. Vielleicht treffen die Verschwundenen da wieder zusammen und sind froh, dass sie den düsteren Tunnel hinter sich lassen konnten.“

      Der Schwarmälteste seufzte. Denn das, was er Jerino erklären wollte, war gar nicht so einfach. Aber irgendwann musste er es ihm wohl sagen. Und vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.

      „Alle, die in den Tunnel ohne Wiederkehr geraten sind, sind tot, Jerino. Es ist also völlig egal, wie es hinter dem Tunnel

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