Das Land, in dem die Wörter wohnen. Clemens Sedmak
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Und es wurde ein eigenartiges Abendessen. Mama wollte erzählen, was sie am Wochenende gerne unternehmen würde, aber die meisten Wörter fielen ihr einfach nicht ein; Papa wollte wissen, was wir am Nachmittag gemacht hatten, aber wir konnten es ihm beim besten Willen nicht erzählen; uns waren wirklich die Wörter ausgegangen. Papa konnte uns keine Gutenachtgeschichte erzählen, Mama konnte uns kein Schlaflied singen, wir alle gemeinsam konnten unser Abendgebet nicht aufsagen. Und ich wurde immer bedrückter.
Am nächsten Morgen waren wir alle stumm. Papa, Mama, Brigitte, Pia und ich. Uns waren alle Wörter ausgegangen. Alle. Es war fürchterlich. An diesem Freitag war ein Feiertag, und wir mussten nicht in die Schule gehen. Aber wie gerne wären wir in der Schule gewesen, denn es war ein schrecklich öder und langer Tag. Wir konnten nicht richtig spielen, wir konnten nichts lesen, wir konnten nicht miteinander reden, ja wir konnten nicht einmal miteinander streiten. Und ich streite so gern.
„Du wirst sicher einmal einen Beruf haben, in dem du viel streiten kannst“, sagt Mama immer. Aber an diesem Freitag war mir gar nicht nach Streiten zumute. Ich hätte so gern mit Hans und Erika geplaudert oder meine Großmutter besucht. Meine Großmutter kann herrlich Geschichten erzählen. Aber an diesem Freitag war alles stumm.
Wir schlichen durch die Straßen und begegneten nur bedrückten stummen Menschen, die die Köpfe hängen ließen. Der Straßenbahnschaffner machte keine Witze, der Eisverkäufer sagte nicht „Guten Morgen“, Herr Trübitz, unser Nachbar, konnte nicht einmal seinen Hund rufen, was er sonst immer in der Mittagspause tut, denn sein Hund streunt mittags gerne herum. An diesem Freitag war alles still. So gern hätten wir sogar Herrn Trübitz schreien gehört oder die andere Nachbarin mit ihrem Mann schimpfen, aber alle blieben stumm. Schweigend aßen wir zu Abend und schweigend legten wir uns ins Bett.
In dieser Nacht hatte ich einen eigenartigen Traum: Ich träumte vom Land der Wörter, und ich träumte davon, dass die Wörter beschlossen hatten, sich aus der Welt der Menschen zurückzuziehen, weil die Menschen immer mehr Lügen erzählten und falsche Worte gebrauchten, falsche Worte, die schön klingen. Und ich träumte davon, dass die Wörter miteinander beratschlagten, wie es denn weitergehen sollte. Und im Traum sah ich unseren Buchladen, die kleine Buchhandlung in unserer Stadt, in die mich Mama schon als ganz kleines Kind mitgenommen hatte. Irgendwie spürte ich, dass dieser Buchladen der Schlüssel zu allem war. Dann wachte ich auf.
Der nächste Morgen war so stumm, wie der letzte Abend geendet hatte. Dennoch fühlte ich mich nicht so niedergeschlagen, mein Traum hatte mir Mut gemacht. Nach dem Frühstück, bei dem wir alle schweigend um den Tisch saßen, gingen Pia und ich in die Stadt; Brigitte nahmen wir zwischen uns. Meine Schwestern wussten nicht, wohin unser Spaziergang gehen sollte, aber ich wusste es genau. Ich führte sie in den Buchladen, von dem ich geträumt hatte.
Es war kein sehr fröhlicher Spaziergang, schweigend trotteten wir an schweigenden Menschen vorbei, mir kam es so vor, als marschierten wir durch eine Geisterwelt. Endlich waren wir beim Buchladen angelangt. Ich machte die Tür auf, und wir gingen hinein.
Unser Buchladen ist mehr eine Bücherstube, es gibt eine gemütliche Leseecke, es gibt einen netten kleinen Ofen, auf dem ein Teekessel stand, es gibt eine Stehlampe, die warmes Licht verstrahlte, und es gibt eine Unmenge von Büchern. Große Bücher und kleine Bücher, dicke Bücher und dünne Bücher, liegende Bücher und stehende Bücher, Bücher mit Bildern und Bücher mit Zahlen, Bücher mit einem bunten Umschlag und Bücher, die ganz unscheinbar aussahen.
Ich weiß nicht, ob ich das schon erzählt habe, aber ich liebe Bücher. Ein Buch ist wie ein Freund für mich. Mit einem Buch-Freund kann ich in eine ganz eigene Welt gehen, mit diesem Freund kann ich ganz großartige Dinge erleben, mit diesem Freund kann ich träumen und lachen, weinen und traurig sein. Ein Buch ist auch ein geduldiger Begleiter, der immer da ist, wenn ich ihn brauche. Meine Eltern haben ganz viele Bücher, und wenn ich groß bin, möchte ich auch ganz viele Bücher haben.
In der Bücherstube fühle ich mich immer sehr wohl, ich könnte stundenlang bei den Kinderbüchern stehen und in den Büchern blättern, Bilder anschauen, ein paar Seiten lesen, weiterblättern … So wird es euch nicht wundern, dass ich sofort zu den Kinderbüchern gegangen bin. Ich hab geschmökert und bald die Welt um mich herum vergessen. Ich hörte auch nicht, wie Pia und Brigitte mit dem Buchhändler, einem lieben alten Herrn, redeten, und es fiel mir gar nicht auf, dass sie ganz normal redeten, als wäre die Welt draußen gar nicht stumm geworden. Erst als Pia mich am Ärmel zupfte, wurde ich aufmerksam.
„Hier können wir wieder reden“, sagte sie ganz aufgeregt, „und der Buchhändler kann auch reden, und alle können reden!“
Jetzt erst wurde mir klar, dass wir nicht die Einzigen in der Buchhandlung waren und dass sich eigentlich sehr viele Menschen in der kleinen Bücherstube drängten und munter miteinander schwatzten. Das Reden war wie Musik in meinen Ohren, nach den Stunden der drückenden Stummheit! Es war alles so, wie wir es früher immer gewohnt waren. Und doch, ich kann nicht sagen, warum, war es ein bisschen anders.
Da kam auch der Buchhändler auf uns zu. Er führte Brigitte, die alle Scheu verloren hatte, an der Hand und sagte augenzwinkernd: „Kommt, ich muss euch etwas zeigen.“
Und wir gingen mit ihm in eine Ecke der Bücherstube. Der Buchhändler zog ein großes Buch aus dem Regal. „Das Buch der Wörter“ stand auf dem Umschlag, das konnte ich noch lesen.
„Schlüpft einmal durch dieses Buch“, sagte er, und das taten wir. Wenn ihr nicht wisst, wie das ist, wenn man durch ein Buch schlüpft, dann kann ich euch nur raten, auch in diese Bücherstube zu gehen, denn es ist ganz einfach.
Und nachdem wir durch das Buch geschlüpft waren, waren der Buchhändler und die Bücher und die Bücherstube und die Menschen verschwunden, und wir befanden uns in einem dunklen Gang. Brigitte ist ein bisschen ängstlich und fing natürlich gleich zu weinen an. Pia und ich nahmen sie an der Hand. Wir gingen den halbdunklen Gang entlang, das war die einzige Richtung, in die wir gehen konnten.
Ein bisschen schlotterten sogar mir die Knie, muss ich zugeben, obwohl ich sehr mutig bin und mich selten fürchte, nicht einmal bei Gewittern. Aber in diesem dunklen Gang wurde auch mir ein bisschen bang ums Herz. Aber irgendetwas trieb uns weiter. Es wurde heller und heller und bald traten wir ins Freie in ein weites Land. Direkt vor uns war ein Schild, und auf diesem Schild stand: „Das Land, in dem die Wörter wohnen“.
In der Ferne sahen wir kleine Gestalten in bunten Gewändern, die alle in die gleiche Richtung marschierten. Es war eigentlich ein gewaltiger Zug von diesen kleinen Männchen, und ich verstand sofort, dass das die Wörter sein mussten. Ich hatte mir nie überlegt, wie Wörter eigentlich aussehen. Aber dass sie lebendig sind, das war mir klar. Das wissen doch alle, die Bücher lieben.
Dann tauchte ein solches Wörter-Männchen vor uns auf, verbeugte sich und sagte: „Ihr seid sicher die Kinder, die Xenos geschickt hat.“ Und er fügte hinzu: „Ich bin Freund, ich werde euch begleiten.“
Wir schüttelten uns die Hände und mir kam es so vor, als würden wir Freund schon immer kennen; er hatte eine kunterbunte Jacke an und eine karierte Hose und eine Zipfelmütze auf dem Kopf. Wir wurden sofort Freunde. Ich sagte ihm offen, dass ich keinen Xenos kannte, aber er lachte nur und zeigte auf den Menschenzug in der Ferne: „Das sind die Wörter. Sie gehen alle zur großen Versammlung.“
Während er sprach, wurde mir klar, warum wir hier in einem ganz besonderen Land waren, ich konnte nämlich nichts hören, aber jedes seiner Worte genau verstehen.