Die Führungskraft als Influencer. Barbara Liebermeister
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Was ist also aus Mitarbeitersicht so außergewöhnlich bei Gore? Beim Recruiting wird zuerst einmal darauf geschaut, ob die Person von ihrer Einstellung her ins Unternehmen passt. Genauso hat es meine Tochter bei Veeva erlebt. Denn obwohl sie »International Business« studiert hat – ein relativ generalistisch aufgestelltes Studium – und sich im Masterstudium auf Nachhaltigkeit konzentrierte, bekam sie den Job – und das, obwohl bei Veeva naheliegenderweise Mitarbeiter mit IT-Vorkenntnissen oder einschlägigen Abschlüssen bevorzugt werden. Eigentlich. Doch Unternehmen, denen es auf eine Follower-Kultur, Begeisterung und Persönlichkeit ankommt, achten eher auf Talente als auf den Lebenslauf.
So ist es auch bei Gore: Auch dort spielt die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und zur Entdeckung eigener Talente die größte Rolle. Kein Führender versteht sich hier als »Kontrolleur«, sondern eher als Berater und Moderator seines Teams. Das individuelle Wissen wird für das große Ganze eingesetzt und dient der Zusammenarbeit. Dazu passend setzt sich das Gehalt aus der Bewertung aus Kollegensicht, aber auch aus dem möglichen Marktwert am Arbeitsmarkt zusammen. Doch um das Gehalt allein geht es hier sowieso niemandem: Personalmangel hatte Gore noch nie, obwohl die Verdienstmöglichkeiten (mit Ausnahme der 11 Prozent in Anteilen) eher durchschnittlich sind. Da Gore nicht börsennotiert ist, wird der Unternehmenswert vierteljährlich von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ermittelt. Auch bei Veeva erhalten die Mitarbeiter übrigens eine Unternehmensbeteiligung in Form von Aktien als zusätzlichen Einkommensbestandteil.
Freigeist wird in beiden Unternehmen belohnt: Haben Associates bei Gore augenscheinlich verrückte Projektideen, wird dies gefördert und zahlt sich in der Regel aus. Beispielsweise überzog ein Ingenieur die Bowden-Züge seines Mountainbikes mit PTFE, einem Werkstoff mit besonderen Eigenschaften unter starker Beanspruchung. Dann kam ihm die Idee, dass man das auch mit Gitarrensaiten machen könnte. Heute ist Gore mit seinen »Elixir«-Gitarrensaiten Marktführer – in einem Segment, das ursprünglich nicht zum Kerngeschäft gehörte.
Das Beispiel Gore zeigt: Wertschätzend und heterarchisch zu führen, also nicht durch Hierarchie, sondern als Gruppe von gleichberechtigten Teilnehmern oder auch Managern innerhalb einer Unternehmenseinheit, ist keine originäre Erfindung des digitalen Zeitalters. Das gibt es bereits seit Jahrzehnten. Und die Unternehmen, die so arbeiten, sind damit schon länger äußerst erfolgreich. Es scheint also etwas für sich zu haben, nicht kraft der eigenen Position zu führen, sondern über den persönlichen positiven Einfluss auf Augenhöhe, den man auf die Menschen in seinem Umfeld ausübt. Solche Führende können vor allem eines: Menschen überzeugen und mitnehmen auf eine Mission, für die sich alle gemeinsam entscheiden und begeistern.
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Fazit: Mitarbeiter wollen keine Bosse mehr |
Ich denke, eines ist an diesem Punkt überdeutlich geworden: Mitarbeiter wollen gern arbeiten, begrüßen die Flexibilität der heutigen Arbeitswelt, benötigen aber auch die passenden Chefs dazu. Diese Vorgesetzten sind keine Bosse im klassischen Sinne mehr. Es sind Menschen, die es schaffen, auf Augenhöhe zu agieren, und die nicht auf Status aus sind. Vielmehr ist ihnen bewusst, dass die wichtigste Währung im digitalen Zeitalter der Mitarbeiter ist. Und den gilt es nicht nur einmalig zu gewinnen, sondern auch dauerhaft an sich und das Unternehmen zu binden.
In den letzten drei Dekaden hat sich unsere Arbeitswelt verändert. Job ist nicht mehr nur Job, sondern Arbeit wird zur erweiterten Identität. Meist erkennen wir das als Arbeitende selbst nicht, jedenfalls nicht in vollem Umfang. Umso mehr brauchen wir Menschen, die uns in wohlwollendem Kontext fördern und unsere Talente begrüßen. Diesen Menschen vertrauen wir nicht nur, sondern sie stellen etwas ganz Besonderes für uns dar – wir akzeptieren sie als unsere Influencer.
Menschen wollen wissen, was sie in der Organisation leisten können, und wollen vor allem konstruktives Feedback erhalten. Sie wollen nicht auf das eine Jahresgespräch kurz vor dem Urlaub warten, sondern in ständiger Kommunikation mit der Führungskraft sein. Der Sinn seiner Arbeit muss dem Einzelnen klar sein und im Vordergrund stehen. Jeder einzelne Mitarbeiter will gesehen, respektiert und seinen Talenten entsprechend gefördert werden. Er möchte individuell geführt werden und anerkannt sein.
Und wieder grüßt das Marktforschungsinstitut Gallup an dieser Stelle ganz deutlich mit seiner letzten Umfrage in 201816. Motivierende Führung und der Grad der Bindung der Mitarbeiter an ein Unternehmen hängen eng zusammen. Erschreckenderweise fühlen sich nur noch 15 Prozent hierzulande emotional an ihr Unternehmen gebunden. Das führt gleichzeitig dazu, dass diese Mitarbeiter sich weder als Markenbotschafter verstehen noch den Arbeitgeber weiterempfehlen. Insofern ist die Aussage von Marco Nink, Regional Lead Research & Analytics EMEA bei Gallup, nur verständlich: »Führungskräfte müssen sich bewusst sein, dass sie diejenigen sind, die durch ihr Verhalten einen erheblichen Einfluss auf die Unternehmenskultur haben. Denn emotionale Bindung wird im unmittelbaren Arbeitsumfeld erzeugt.«17
Die Konsequenz für uns als Führungskräfte kann nur sein, dass wir in Zeiten von selbstorganisierten Teams weiterhin stark gefragt sind – aber nur, wenn wir gute Beziehungen zu den Mitarbeitern pflegen und uns jedem persönlich widmen. Wir forschen nach ihren Stärken, suchen nach individuellen Talenten, entwickeln den Einzelnen weiter und zeigen persönliche Perspektiven auf. Der Mitarbeiter profitiert von mir als Influencer, indem ich Nutzen stifte – für ihn und für uns als Team. Diese Haltung zieht weite Kreise: Sind deine Mitarbeiter zufrieden, hast du auch zufriedene Kunden.
Eine dafür grundlegende Erkenntnis zu betonen ist mir besonders wichtig: Die meisten Menschen sind von Natur aus bereit, die Welt zu bewegen, Dinge voranzutreiben und sich »anstecken« zu lassen. Es geht nicht darum, dass bestimmte Incentives dringend gebraucht werden, um alle Probleme zu lösen. Der Obstkorb, der Betriebskindergarten, die flexible Arbeitszeit sind Signale, die zeigen, dass der Mitarbeiter wertgeschätzt wird. Bedeutet es anfangs einen Mehraufwand, eine solche Kultur der Wertschätzung einzuführen? Vielleicht. Na und? Ein Influencer stellt sich selbst einem Erprobungs- und Entwicklungsprozess, um andere zu animieren, es ihm gleichzutun. Von nichts kommt nichts – auch nicht in der digitalen Welt.
In diesem Kapitel habe ich dich in meine Überlegungen zum Influencerprinzip eingeführt. In den folgenden Kapiteln erfährst du, wie einfach es sein kann, die klassische Hierarchie zu verlassen und den Weg »vom Boss zum Influencer« zu gehen. Stell dir vor, dass auch du diesen Spirit, den Gore und Veeva implementiert haben, schaffen kannst. Jeder generiert durch seine Haltung und sein Verhalten seine eigenen Follower. Gemeinsam hechelt ihr dann nicht mehr sinnentleerten Zielvereinbarungen hinterher, sondern schafft ganz andere Ergebnisse als bisher. Ihr freut euch auf den digitalen Wandel und auf alles, was er mit sich bringt. Ihr habt keine Angst vor digitaler Transformation, sondern geht spielerisch neue Wege. Führung soll allen Spaß machen; sie soll Lust bereiten, Probleme anzugehen.
Der Vorteil der neuen Führung ist gerade der, dass sie in mancher Hinsicht klarer wird: Der Influencer Leader arbeitet nicht mehr kleinteilig, sondern global. Er gibt Impulse, lässt andere machen, konzentriert sich