Digitale Transformation von Arbeit. Hartmut Hirsch-Kreinsen
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In der laufenden Debatte werden daher spektakuläre Veränderungen und Entwicklungsperspektiven prognostiziert. In der Fachöffentlichkeit, in der Politik und weit darüber hinaus wird der Digitalisierung die zentrale Rolle für die zukünftige gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung zugeschrieben. Man fühlt sich an die zweite Hälfte der 1990er Jahre erinnert, als die New Economy und mit ihr Schlagworte wie Multimedia und Internet als die Vorboten einer prosperierenden gesellschaftlichen Zukunft gefeiert wurden.
Betrachtet man die Debatte genauer, so finden sich durchaus überzeugende Argumente dafür, dass gegenwärtig ein technologischer Entwicklungsschub Platz greift, dessen gesellschaftliche Konsequenzen kaum absehbar sind. Ausgangspunkt hierbei ist die weithin geteilte Annahme, dass die Entwicklung digitaler Technologien nach vielen Jahren derzeit ihre »full force« erreicht habe (Brynjolfsson/McAfee 2014, S. 9). Damit eröffne sich eine völlig neue Qualität ihrer Anwendung. Ursächlich hierfür sind die dramatische Steigerung der Leistungsfähigkeit der Computersysteme, die gleichzeitige massive Senkung ihrer Kosten und ihre rasante Miniaturisierung in den letzten Jahrzehnten (vgl. OECD 2019).
Historisch können mehrere Phasen der Digitalisierung unterschieden werden: In einer ersten Phase hat sich dieser Prozess spätestens seit Ende der 1990er Jahre schon in jenen Wirtschaftsbereichen durchgesetzt, wo Produktion, Konsumtion und Kommunikation unmittelbar auf immateriellen Transaktionen und der Nutzung von Daten und Informationen basieren. Zu nennen sind hier Dienstleistungssektoren wie die Musikherstellung und -distribution, das Verlags- und Zeitschriftenwesen oder auch Finanzdienstleistungen, deren Digitalisierung weitreichende Strukturveränderungen einzelner Geschäftsmodelle sowie ganzer Firmen- und Branchenstrukturen nach sich gezogen hat (Zuboff 2010; Brynjolfsson/McAfee 2014).
Seit Beginn der 2000er Jahre kann von einer zweiten Phase der Digitalisierung gesprochen werden, die sich auf die Verknüpfung der Digitalisierung mit physischen Gegenständen unterschiedlichster Art richtet. Shoshana Zuboff (2010, S. 8) bezeichnet diese Entwicklung als »second-wave mutation« des technologischen und damit verbundenen sozio-ökonomischen Wandels. In einer primär technologischen Perspektive wird dieser Zusammenhang unter dem Schlagwort Internet der Dinge thematisiert. Mit diesem Begriff wird eine Vernetzung von physischen Prozessen und Gegenständen und ihrer informationstechnologischen, virtuellen Abbildung und Simulation bezeichnet (vgl. z. B. Fleisch/Mattern 2005; Bullinger/ten Hompel 2007).1 Konkreter wird auch von Cyber-physischen Systemen (CPS) gesprochen, die in den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen wie Wohnen, Medizin, Verkehr oder industrielle Produktion die virtuelle Datenebene mit einer realen Prozessebene verknüpfen (vgl. z. B. Geisberger/Broy 2012). Unter dem Begriff der CPS wird das informationstechnologische Zusammenspiel von physischen Systemen und »eingebetteter« Software mit der virtuellen Datenebene sowie vernetzten und interaktiven Anwendungssystemen verstanden. Die zentrale informationstechnische Voraussetzung hierfür ist die Darstellung der realen Prozesse in Form eines sog. Digitalen Zwillings (»digital twin«), der die Prozesse modelhaft in Algorithmen abbildet und damit ihre Simulation und Steuerung ermöglicht (z. B. Sendler 2013). Im wirtschaftlichen Bereich wird diese Entwicklung mit der Digitalisierung von B2B-Geschäftsbeziehungen (business to business) beschrieben, die die bisherigen B2C-Relationen (business to consumer) der ersten Digitalisierungsphase erweitern. Dies betrifft besonders den industriellen Sektor, da hier zumeist B2B-Beziehungen anzutreffen sind. Damit ergeben sich bislang nicht gekannte und völlig neue Anwendungspotenziale und daraus resultierende gesellschaftliche Folgen.
Schließlich zeichnet sich derzeit eine dritte Phase der Digitalisierung ab, die von der zunehmenden Nutzung von Systemen der Künstlichen Intelligenz (KI) und dem Einsatz sog. Autonomer Systeme geprägt ist. Diese Technologien verweisen auf eine mit hohen Erwartungen verbundene Entwicklungsperspektive, deren tatsächliche Reichweite, Anwendungsfelder und sozialen Konsequenzen bislang nur schwer abschätzbar sind (
Begrifflich soll im Folgenden – orientiert an der international gebräuchlichen Definition (vgl. OECD 2019) – unter Digitalisierung informationstechnologisch die Nutzung und Verbreitung digitaler Technologien und deren Vernetzung sowie damit verbundene neue Funktionen und Aktivitäten verstanden werden. Des Weiteren wird der Begriff der digitalen Transformation aufgegriffen. Er bezeichnet den ökonomischen und sozialen Wandel, der durch die Digitalisierung angestoßen wird.2 Der deutsche Begriff Industrie 4.0 soll, ähnlich wie in der laufenden Debatte, weniger präzise verwendet werden und beide genannten Dimensionen umgreifen. Der Begriff der digitalen Technologien umfasst sowohl Hard- als auch Softwarekomponenten und bezieht sich auf sehr unterschiedliche Funktionszusammenhänge, die von prozessübergreifenden Steuerungssystemen über autonome Robotersysteme bis hin zu mobilen Datenendgeräten wie Datenbrillen reichen (
1.2 Weitreichende Erwartungen – Technikutopie Digitalisierung
Der Digitalisierungsdiskurs richtet sich nicht allein auf technologische Perspektiven, vielmehr werden zugleich weitreichende gesellschaftliche Zukunftserwartungen formuliert, mit denen sich ungebrochene Wachstums- und Fortschrittsperspektiven verbinden (vgl. Pfeiffer 2015). Zuboff bezeichnet den digitalen Technologieschub sowohl technologisch als auch im Hinblick auf dessen sozialen Konsequenzen als »unprecented« – als beispiellos und noch nie dagewesen. Ihr zufolge werden der Digitalisierungsdiskurs und seine weitreichenden Erwartungen im globalen Maßstab besonders von dem digitalen Milieu des Silicon Valley geprägt. Vorherrschend sei ein Credo, das mit Formeln wie Disruption, Geschwindigkeit, Agilität, ungehinderte Innovation und – mit Rückgriff auf das bekannte Diktum von Schumpeter – als »kreative Zerstörung« der bestehenden sozialen und ökonomischen Verhältnisse umschrieben werden kann (vgl. Zuboff 2019, S. 50 f.).3
Festmachen lässt sich diese Perspektive vor allem auch an den prognostizierten immensen ökonomischen Gewinnen einer erfolgreichen Digitalisierung der industriellen Produktion in Deutschland: So wird in einer weithin rezipierten Studie von einem durch Industrie 4.0 ermöglichten Wirtschaftswachstum für Deutschland in Höhe von 78 Mrund Euro bis 2025 ausgegangen, wobei einzelnen Branchen wie dem Maschinen- und Anlagenbau Wachstumsraten von bis zu 30 Prozent vorhergesagt werden (vgl. Bauer et al. 2014). Ähnlich optimistisch ist eine Untersuchung der Unternehmensberatung PwC: Ihr zufolge können innerhalb von fünf Jahren nach der Einführung von Industrie-4.0-Systemen Produktivitätssteigerungen von rund 18 Prozent und jährliche Umsatzsteigerungen von zwei bis drei Prozent erwartet werden. Danach ergeben sich hochgerechnet in der gesamten Industrie pro Jahr Umsatzzuwächse von 30 Mrund Euro (vgl. PwC 2014). Insbesondere wird die Digitalisierung als die Voraussetzung dafür angesehen, neue digital gestützte Geschäftsmodelle und Absatzstrategien zu realisieren, um bestehende Konkurrenzvorteile auf dem Weltmarkt zu sichern und neue Märkte zu erschließen; die entsprechenden Losungen im Diskurs über Industrie 4.0 heißen: Individualisierung der Produktion und »Losgröße 1« (vgl. z. B. acatech 2018).
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