Der Geruch von Heu. Giorgio Bassani
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Die italienische Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel L´odore del fieno bei Arnoldo Mondadori Editore in Mailand, die erste deutsche Ausgabe 1974 im Piper Verlag in München. Die Übersetzung wurde nach der Ausgabe der 1998 bei Arnoldo Mondadori in Mailand von Roberto Cotroneo herausgegebenen Opere durchgesehen.
Diese Ausgabe wird in freundlicher Zusammenarbeit mit der Fondazione Giorgio Bassani veröffentlicht.
Die * beziehen sich auf die Anmerkungen des Verlags ab Seite 107.
E-Book-Ausgabe 2020
© 1972 Arnoldo Mondadori Editore S.p.A.
© 2009 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August.
Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN: 978 3 8031 4301 3
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2613 9
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Vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ein Kind war, lebte in Ferrara eine jüdische Signorina; sie war nicht häßlich und auch nicht arm, weder dumm noch stand sie bereits in reiferem Alter; und wenn sie vielleicht nicht besonders begehrenswert war, so doch gewiß auch nicht zu verachten. Und doch, so seltsam das scheinen mag, war es der Familie noch nicht gelungen, für die junge Dame einen Mann zu finden. Seltsam? Ja, doch, durchaus. In unserer Gemeinde war ein solcher Fall damals etwas ganz Ungewöhnliches. Da ließ man im allgemeinen die Verbindungen von Sippe und Verwandtschaft spielen; aber auch die Versammlungen vom Verband jüdischer Frauen Italiens konnten hilfreich sein, ebenso wie die Bälle, die zur Zeit des Purim-Festes in den Nebenräumen des Tempels in der Via Mazzini oder im Empfangssaal des israelitischen Kindergartens in der Via Vignatagliata stattfanden: Veranstaltungen, bei denen die Matronen in dichten Reihen als Mauerblümchen an der Wand saßen und miteinander flüsterten; war es ein schwieriger Fall, bat man den Rabbiner, Dr. Castelfranco, sich brieflich an seine Kollegen in den Nachbarstädten in der Emilia, der Romagna oder in Venetien zu wenden. Jedenfalls, so oder so, im passenden Augenblick kam das Thema regelmäßig zur Sprache. Man brauchte nie den Mut zu verlieren. Wenn schon auf dem heimischen Markt kein Mann aufzutreiben war, bitte, dann kam aus der Ferne Lohengrin: zu sehen und sich zu zeigen, und fast immer das Geschäft zum Abschluß zu bringen.
1934 war Egle Levi-Minzi dreiunddreißig Jahre alt. Warum sie unverheiratet geblieben war, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Sie war die einzige Tochter schon bejahrter, ziemlich wohlhabender Eltern, mit denen sie zusammenlebte. Zusammen sah man sie auch regelmäßig zu bestimmten Stunden des Morgens und des Nachmittags auf den Straßen der Innenstadt; sie bildeten ein Trio, das nahezu unzertrennlich war; es war in der ganzen Stadt so bekannt, daß es fast sprichwörtlich geworden war. Was ich weiß, ist nur soviel, daß, als ihre Eltern anfingen, sich nach einem möglichen Schwiegersohn umzusehen, der größte Widerstand immer von ihr, der Hauptinteressierten, gekommen war. Zu ihrer ablehnenden Haltung trugen wahrscheinlich auch etwas ihre jungfräulich-töchterlichen Gefühle bei, ihre etwas übertriebene Anhänglichkeit an ihre alten Eltern. Aber vielleicht wirkte dabei auch ein geheimer Einfluß mit, der auf Bilder oder Ereignisse ihrer frühesten Jugend zurückging – man bedenke, es war die Zeit des berüchtigten Squadrismo, der ersten faschistischen Kampfbünde, eine Zeit, die in so mancher Hinsicht der unsrigen ähnelt –, irgendein Bild also, das sie noch in späteren Jahren daran hindern sollte, sich einem anderen Typ von Männlichkeit zuzuwenden … Wie dem auch sei, soviel ist sicher: sobald Egle Levi-Minzi sich vor eine Entscheidung gestellt sah, hieß es bei dem einen ›unmöglich‹, bei dem andern ›ausgeschlossen‹, bei diesem ›um Himmelswillen!‹ und bei jenem ›nun bitt’ ich euch aber!‹ Sie verzog den großen melancholischen Mund mit den ein wenig herabgezogenen Winkeln, senkte mit gelangweilter Miene leicht die Lider mit den spärlichen Wimpern über ihre traurigen, feuchten braunen Augen von sephardischem Schnitt – und wieder verlängerte ein neuer Name die immer stattlicher werdende Liste der abgewiesenen Bewerber.
Ganz anders war die Aufnahme, die sie etwa Mitte 1935 – ich glaube, es war der Juni – einem Bewerber bereitete, der von sehr viel weiter herkam als nur aus Bologna, Ravenna, Mantua, Rovigo, Padua oder Venedig. Er war Russe, Ukrainer, genau gesagt. Auch er einziges Kind nicht mehr junger Eltern und siebenundzwanzig Jahre alt. Er hieß Juri – Juri Rotstein.
Die kleine Familie war im Sommer des vorangegangenen Jahres aus Odessa nach Ferrara gekommen. Sie kamen mit dem Zug aus Triest und hatten sich, so gut es ging, in einem kleinen Hotel gegenüber dem Bahnhof einquartiert. Aber noch vor Yom Kippur, also bevor der Oktober zu Ende ging, hatten sie (natürlich gratis) eine Wohnung in der Via Vittoria, die seit altersher der israelitischen Gemeinde gehörte. Sie hatten um Asyl gebeten, und man hatte es ihnen gewährt. Der Vater hatte zudem, auf Grund seiner Vertrautheit mit dem Kult und seiner vollkommenen Beherrschung des Hebräischen in Wort und Schrift, gewisse kultische Obliegenheiten übernommen. Er wirkte als Assistent und gelegentlich auch als Stellvertreter bei den Zeremonien vom Sabbat-Beginn, bei den Bestattungsriten und bei der rituellen Schächtung von Tieren. Kurz, im Laufe weniger Monate hatten sie sich bereits eingelebt. Ihr Italienisch kam ihnen langsam von den Lippen, und es hatte zuweilen einen merkwürdig tiefen, fremdartigen Klang; ihre Wortwahl hatte, zugegeben, etwas Approximatives, war aber nichtsdestoweniger von überraschender Ausdruckskraft. Als sie sich das erstemal bei der Gemeinde gemeldet hatten, da hatte der Vater, der auch für die beiden andern sprach, Erez, das gelobte Land, und Amerika erwähnt …
Vater und Sohn ähnelten sich. Beide waren groß, entschieden größer, als die Besucher der ›deutschen Schule‹, der Synagoge des deutschen Ritus, es im Durchschnitt waren; sie hatten Gesichter vom gleichen Typus: lang, hager, mit vorstehenden Backenknochen und die gleichen kleinen blauen Augen, schräggestellte Muschikaugen. Die Mutter dagegen war klein, dick und rundlich – eine Art Magd oder Bäuerin, mit einem gewaltigen weißen Kopftuch, das unter dem Kinn geknüpft war. Aber was auf die Besucher der Synagoge den stärksten Eindruck machte – und zwar sowohl in dem den Männern vorbehaltenen Saal unten als auch oben, im Matroneum –, das war die unleugbare Würde der drei, war die rührende Unbefangenheit, mit der sie sich, bei einigen Gegendiensten ihrerseits, als Gast verstanden. Es war nicht so, als ob sie sagen wollten: ›Im Grunde sind wir alle gleich, Glaubensgenossen und Söhne eines Volkes; also ist dieses Haus auch unser Haus.‹ Keineswegs! Allein ihr Verhalten im Tempel – schweigsam alle drei, gesetzt und ohne mit besonders zur Schau gestellten aschkenasischen Eigentümlichkeiten Anstoß zu erregen (zwar hielt der Vater fest am Kaftan und trug nach wie vor sein schütteres blondes Bärtchen ebenso wie die frommen Löckchen, die unter dem runden Hut um die Ohren herum hervorschauten, und die Mutter blieb bei ihrem bäuerlichen Kopftuch, doch der Sohn, im grauen Anzug, trug sich korrekt nach westlichem Vorbild) – allein ihr Verhalten im Tempel schien einzig von der Sorge bestimmt zu sein, die Versammlung davon zu überzeugen, daß es ihre feste Absicht sei, sobald wie möglich weiterzureisen. Sie baten nur darum, ein kleines Weilchen bleiben zu dürfen, gerade nur etwas Zeit, um Atem zu schöpfen. Da mochten wir ganz ruhig sein: nachdem sie sich ausgeruht hatten, wollten sie sofort die Reise in die weite Welt wiederaufnehmen.
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