Ein zweites Leben. Francois Jullien
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Die Idee eines „zweiten Lebens“, die François Jullien in Auseinandersetzung mit den Klassikern des chinesischen Denkens entwickelt, meint nicht Wiedergeburt oder neues Leben, sondern zeichnet einen Weg der stillen Verwandlung vor.
In diesem Essay lässt François Jullien die Begründer des Taoismus in einen Dialog mit europäischen Denkern treten. Dabei entwickelt er die Idee eines „zweiten Lebens“: Diskret und ohne Bruch findet eine Verschiebung in unserem Leben statt – es trifft nunmehr seine eigenen Entschlüsse und gestaltet sich um. Es belebt sich neu, kommt wieder in Gang, richtet seine Vorhaben und Ziele aus und gibt bislang unergründet gebliebene Möglichkeiten frei. Indem wir unsere Freiheit schrittweise entfalten, aus der Wiederholung heraustreten und Klarheit erlangen, leben wir fortan nicht mehr bloß, sondern beginnen zu existieren.
François Jullien, geboren 1951, lehrte an zahlreichen namhaften Universitäten weltweit. Er wurde 2010 mit dem „Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken“ ausgezeichnet.
EIN ZWEITES LEBEN
PASSAGEN FORUM
François Jullien
Ein zweites Leben
Aus dem Französischen von
Christian Leitner
Passagen forum
herausgegeben von
Peter Engelmann
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: Une seconde vie
Aus dem Französischen von Christian Leitner
Cet ouvrage a bénéficié du soutien des Programmes d’aide à la publication de l’Institut français.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7092-0382-8
eISBN(EPUB) 978-3-7092-5031-0
© 2017 by Éditions Grasset & Fasquelle
© der dt. Ausgabe 2020 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Grafisches Konzept: Gregor Eichinger
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Inhalt
IX. Wiederlesen, Wiederaufnahme, Wiederverpflichtung
Warnhinweis
Hinter ihren Gedanken, tatsächlich hinter allem Übrigen, bemerkt eine Figur aus einem modernen Roman, bereits im fortgeschrittenen Alter, wie sich, während sie den Vorhang vom Fenster wegzieht, das Haus gegenüber und die Straße betrachtet, eine Frage unmerklich einschleicht. Die Frage bildet ein Loch in ihren frühmorgendlichen Träumereien: Warum lebe ich noch weiter? Eines hellsichtigen Tages kann sie die Frage nicht länger vermeiden. Sogar wenn sie keinen so ärmlichen Ehemann gehabt hätte, hätte Emma sie sich gestellt. Es stimmt, eine solche Frage – vielmehr handelt es sich um die Frage, in ihrer ganzen Trivialität und Rohheit – kann man hastig begraben, man kann sie unter den Sorgen des Tages einschläfern. Doch sie treibt um, man trägt sie mit sich. Der Romancier früherer Zeiten (noch Stendhal) hatte ein leichtes Spiel, seine Figuren zu exekutieren, sie auf die eine oder andere Weise loszuwerden, oder seinen Roman schlicht unvollendet zu lassen, wenn er nichts mehr mit ihnen anzufangen wusste: wenn sie die Entdeckung des Lebens ausgelebt hatten; wenn sie sich hinreichend an Liebe und Ehrgeiz versucht hatten; wenn sie hinter eine Vielzahl von Illusionen gedrungen waren und allzu viel Klarheit erlangt hatten. Aber dieser Bequemlichkeit des Romanhaften geben wir uns nicht mehr hin. Außerdem ist man nicht der Romanautor seines eigenen Lebens.
Tatsächlich leben wir nicht mehr in jenem Zeitalter, in dem sich die philosophische Fragestellung mit ausreichend Abstand zum Subjekt auf mehrere Ebenen verteilen ließ, die einander ohne weitere Diskrepanzen gegenüberstehen und sich koordinieren: Was kann ich „wissen“ – was soll ich „tun“ – was darf ich „hoffen“. Erkenntnis, Moral und Unsterblichkeitsglaube stellen keine Zwecke mehr dar, die sich für allgemeingültig und von vornherein legitim halten. Denn die Wissenschaft ist nunmehr von Zweifeln hinsichtlich ihres Gebrauchs ergriffen, die Tugend ist bis in ihre Ursprünge hinein, die man für heilig hielt, verdächtig geworden, und der Glaube tut sich schwer, irgendein Jenseits, sei es nun eines der Geschichte oder eines des Heils, glaubhaft zu machen. Daher also sind wir, durch eine noch nicht hinreichend untersuchte stille Verkehrung, von einer Moral der Vorschrift – jener der Vernunftregeln, der Verhaltensimperative oder des Dogmas – zu einer Ethik der Förderung übergegangen. Unser Fragen hat sich auf die menschliche Fähigkeit zurückgezogen, das Leben als Existenz zu entfalten. Was bedeutet jedoch „existieren“, wenn ich daraus – indem ich es dem Denken des Seins ablocke, um darauf ein Denken des Lebens zu gründen – das moderne Verb mache, den entscheidenden Begriff, um den alles sich dreht? Aus ihm geht dieser frühmorgendliche Gedanke hervor: Wird es mir gelingen, mich von meinem früheren Leben – von meinem in seiner Welt festgefahrenen Leben – zu lösen, um einen neuen Tag zu beginnen? Oder um die Bedingung dieser Frage zu erhellen: Bin ich heute soweit gekommen, mir mein vergangenes Leben zunutze