Ein zweites Leben. Francois Jullien
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Denn entweder verschließt man seine Augen vor dem, was sich an diesem ersten Leben erschöpft hat, das seine vom Schein verdeckte Nichtigkeit enthüllt und daher nach seiner Überwindung verlangt. Solange das Bannsiegel seiner ersten Ziele, das heißt der von der Welt vorbestimmten Ziele des hastigen Drangs, noch nicht gebrochen ist, kommt also die Wirkung (Bemühung) des Bewusstseins nicht zum Tragen, die es erlaubt, sich von ihnen zu lösen: Sie verfestigen sich im Gegenteil zur Anhaftung und zur Fixierung. Das Leben gräbt sich tiefer in seine Spurrille, ein festgefahrenes Leben. Oder aber man beginnt – da sich durch Reflexion des vergangenen Lebens (über dieses Leben: das aus dem Abstand geborene „über“) Bewusstsein angesammelt hat, wobei diese, wie man sagt, Bewusstseins-„ergreifung“ sich erst im Ablassen von den zuvor eingegangen Abhängigkeiten bestätigt –, diese Scheidung vom ersten Leben zu akzeptieren, das aus Bedürfnis und Befangenheit geboren und damit weitgehend aufgezwungen war: Man fängt an, wie es heißt, „Bilanz zu ziehen“, überprüft und korrigiert immer entschlossener seine früheren Verpflichtungen, revidiert seine Investitionen und „reformiert“ sein Leben. Eine Wiederaufnahme des Lebens, die kein Alter hat, eine Reform, mit der alles beginnen kann. Eben hiermit beginnt sich eine Initiative abzuzeichnen; wirklicher Manövrierraum – also Spielraum für eine Wahl – kann daraus resultieren; tatsächliche Freiheit kann entstehen: Indem es sich von der Beschränktheit des ersten Lebens abkoppelt, also auch die Solidarität mit seiner Welt hinter sich lässt, kann ein Subjekt, das sich aus der Geschlossenheit des Ich befreit, zum Vorschein kommen. Es behauptet sich also als ex-sistierendes Subjekt. Tatsächlich ist die erste Frage, die ich mir einem anderen gegenüber stelle, nicht im eigentlichen Sinn moralisch, sondern lautet vielmehr: Hat er ein zweites Leben begonnen? Ist er dabei (bereit), einen Zugang zu ihm zu finden? Und wie kann ich ihn andernfalls zu dieser Erfahrung hinleiten, da sie sich doch nicht direkt kommunizieren lässt?
Denn warum würde man länger leben wollen, wenn nicht, um Zugang zu diesem zweiten Leben zu finden? Außer vielleicht aus einem bloß negativen Grund (den Tod hinauszuschieben?) – doch das physische Leben beginnt so rasch zu welken! Es geht, besser gesagt, nicht nur darum, Zugang zu diesem zweiten Leben zu finden, indem man einen zweiten Anfang setzt, sondern auch darum, darin fortzuschreiten. Denn sobald man einmal begonnen hat, in der Feinzeichnung, indem man sie vom Raster oder Grundstoff des Lebens unterscheidet und entwirrt, wahrzunehmen, dass das Leben überhaupt nicht so ist, wie man es uns beigebracht hat; wenn, mit anderen Worten, das Leben selbst in seinem Verlauf einen anderen Entwurf offenbart als den öffentlich bekannt gemachten; wenn wir folglich begonnen haben, im Laufe der Zeit die Beschränktheit des Lebens, die sich hinter den Lehren der Moral und Erziehung verbarg (und vor allem das Bedürfnis nach Macht und Anerkennung und den ewigen Kampf innerhalb mehr oder weniger verschleierter Kräfteverhältnisse, sogar in der „Liebe“), zu durchschauen und zu erkennen – dann erscheint endlich eine Alternative, eine tatsächliche Wahl zeichnet sich ab. Meine ersten „Entscheidungen“ waren sichtlich zu sehr geführt, um Entscheidungen gewesen zu sein. Und wenn sich hier nun endlich eine Wahl abzeichnet (als Möglichkeit einer Initiative, Behauptung eines Subjekts), dann liegt das nicht an einem Selbstbestimmungsvermögen des Willens, der sich ad hoc entscheidet, man weiß nicht wie, plötzlich, das heißt metaphysisch, wie man es sich allgemein vorgestellt hat: auf eine, um die Wahrheit zu sagen, schrecklich abstrakte und theatralische Weise. Sondern vielmehr daran, dass ich mich allmählich losgemacht habe, begonnen habe, Abstand zu gewinnen, um abzuwägen und zu vergleichen, und sich daraus die Möglichkeit zur Wahl ergeben hat. Daher bleibt diese Wahl graduell, offenbart eine solche Alternative sich langsam und stellt sich niemals als Wegkreuzung dar – wie es, allzu bequem, die Moral gern gehabt hätte – oder sonst in einer Weise, die bereits resultativ ist.
Ist das dann nicht tatsächlich jene Alternative, die nicht aus der Moral, sondern aus dem Leben hervorgegangen ist; nicht verordnet wurde, sondern sich ergeben hat: die effektiv – das bedeutet auch schrittweise – eine Schwelle bilden würde, wobei sie die Existenzen absondert? Entweder ich beteilige mich an dem, was ich nach und nach vom Leben selbst entdecke und was keineswegs dem ähnelt, was man mir beigebracht hat (oder vorgab, mir beizubringen) – es ist „nicht gut“ zu lügen und zu schmeicheln, zu drängeln und zu intrigieren usw. –, das heißt, ich spiele mein Spiel mit (in) diesem gesellschaftlichen Schein (die kühle Lektion, die Vautrin Rastignac erteilte), um mir, indem ich mich diesem Gesetz der Notwendigkeit füge, meinen Weg zu bahnen und „durchzukommen“ – das hässliche Verb dieses Realismus. Aber gibt es dabei wirklich eine Wahl? Ich folge nur mehr oder weniger bewusst – geschickt – dem gewöhnlichen, primären Gesetz des Interesses. Oder ich beginne, auf meine früheren Entscheidungen zurückzukommen, die nicht wirklich Entscheidungen waren, löse mich nach und nach von meinen vorherigen Investitionen und sortiere erstmals aus. Denn eine tatsächliche Wahl kann nur in prozesshafter Weise selektiv sein, entgegen der allzu abgeflachten, ausgebreiteten Vorstellung einer „Wegkreuzung“, die ich erwähnte, das heißt, zu einem großen Teil bereits retrospektiv. Ich ziehe mich also nicht aus der Welt zurück (vom „Bösen“: Bequemlichkeit des Religiösen, die nur ein Asketismus der Umkehrung ist). Sondern ich beginne, mein Leben abhängig von diesen Wahrheiten, die nicht kodifiziert sind, sondern sich durch das Leben selbst geklärt haben und langsam aus ihm hervorgetreten sind, neu auszurichten: Wahrheiten, die niemals gelehrt wurden und auch kaum zu lehren sind, die vielmehr nur erhellt werden können, wozu die Literatur, im Unterschied zur Philosophie, dient – der Gewissensroman (von Stendhal bis Proust in Frankreich oder das, was man bei Tolstoi liest) –, und die ich nicht vorhersehen konnte.
Es geht hier also um das Wesen der Wahrheit selbst, um eine Herausforderung für die Philosophie oder wenigstens darum, was sie als ihre Grenze beunruhigen sollte: dass es Wahrheiten gibt, die erst durch die Zeit offenbart werden; nicht im Augenblick (der Argumentation), sondern durch Freisetzung. Man glaubt nämlich, die Wahrheit könne aus sich selbst heraus, index sui, überzeugen, sei auf der Stelle zugänglich, weil sie, prinzipiell auf die Vernunft sich berufend und in ihrem Aussagen begriffen, rechtmäßig jedem Geist einzugliedern ist, der sie zur Beurteilung überprüft, woher auch ihre Universalität rührt. Doch man entdeckt, dass es Wahrheiten gibt, die anderer Ordnung sind: die sich nicht beweisen lassen, sondern sich klären. Nicht dass es sich um hartnäckigere, widerständigere (abstoßendere) Wahrheiten handelt, die man, wie Nietzsche es ausdrückte, lange wiederkäuen, über die man nachgrübeln muss, um sich mit ihnen vertraut zu machen; oder theoretischere, vielleicht auch apophatischere, die mehr Elaboration oder Verstandes- und Begriffsarbeit erfordern, um zu ihnen Zugang zu erlangen. Es geht vielmehr darum, dass es neben den dargelegten, argumentierten Wahrheiten