Als Sherlock Holmes aus Lhassa kam. Arthur Conan Doyle

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Als Sherlock Holmes aus Lhassa kam - Arthur Conan Doyle

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ich nicht die lange, hagere Gestalt und das scharfe, lebhafte Gesicht vor mir gesehen hätte, das ich nie wiederzuschauen gemeint hatte. Auf irgend eine Weise mußte mein Freund auch von meinem eigenen Mißgeschick gehört haben. Sein Mitleid zeigte sich mehr in seinem Benehmen als in Worten. »Arbeit ist das beste Mittel gegen Kummer und Verdruß,« sagte er nur, »und ich habe für heute nacht ein Stück Arbeit, das allein, wenn wir's glücklich vollenden, für einen Mann das Leben wertvoll macht.« Meine Bitte um näheren Aufschluß darüber war vergeblich. »Bis morgen wirst du genug erfahren,« antwortete er. »Jetzt haben wir uns noch über die letzten drei Jahre zu unterhalten. Dieser Gesprächsstoff wird bis halb zehn genügen und dann wird's Zeit, daß wir zu unserem vielverheißenden Abenteuer nach dem leeren Hause aufbrechen.«

      Es war tatsächlich wieder wie in den alten Zeiten, als ich um die angegebene Zeit neben ihm in der Droschke saß, den Revolver in der Tasche und gespannt auf die kommenden Dinge. Holmes war ernst und schweigsam. Im Schein der Straßenlaternen sah ich, wie er nachdenklich die Stirn in Falten gelegt und die Lippen fest aufeinander gepreßt hatte. Ich wußte nicht, was für Wild wir in den dunkeln Revieren des Londoner Verbrecherviertels jagen wollten, aber an dem Gesicht dieses ausgezeichneten Jägers erkannte ich wohl, daß es sich um eine sehr gefährliche Art handeln müsse, und das gelegentliche Lächeln auf seinem sonst unbeweglichen, finsteren Antlitz war wenig glückverheißend für unsere Feinde.

      Ich glaubte, wir würden nach der Bakerstraße fahren, aber an der Ecke des Cavendish-Platzes ließ Holmes halten. Ich bemerkte, wie er sich beim Aussteigen nach allen Seiten umschaute, und auch ferner an jeder Straßenecke vergewisserte, daß ihm niemand folgte. Wir schritten durch die dunkelsten Straßen und Gassen. Holmes hatte eine erstaunliche Ortskenntnis, und er führte mich mit größter Sicherheit und in eiligem Tempo durch ein wahres Labyrinth von Remisen, Ställen und Lagerräumen, von deren Existenz ich noch nicht einmal eine Ahnung hatte. Endlich gelangten wir durch eine enge Gasse, die von alten düsteren Gebäuden eingeschlossen war, in die Manchester- und in die Blandfordstraße. Hier bog er rasch in einen schmalen Gang ein, ging durch ein großes hölzernes Tor über einen öden Hof und schloß dann mit einem Schlüssel die hintere Türe eines Hauses auf. Wir traten zusammen ein, und hinter uns schloß er wieder zu.

      Obwohl es stockdunkel war, merkte ich doch gleich, daß das Haus leer war. Der Fußboden knarrte, und an der Wand fühlte ich mit meiner tastenden Hand herabhängende Tapetenfetzen. Holmes faßte mich mit seinen kalten dünnen Fingern bei der Hand und führte mich in dem langen Gang weiter, bis ich den trüben Lichtschimmer von einem Fenster über einer Tür gewahrte. In dieser Ecke wandte er sich nach rechts, und wir kamen in einen großen leeren Raum. Es war ganz dunkel darin, nur in der Mitte war ein matter Lichtschein, der von der Straße her kam. Die Laterne war aber so weit entfernt und das Fenster so verstaubt und schmutzig, daß wir mit knapper Not gerade erkennen konnten, wo wir standen. Mein Gefährte klopfte mich leise auf die Schulter und flüsterte mir ins Ohr:

      »Weißt du, wo wir sind, Watson?«

      »Das ist sicher die Bakerstraße,« antwortete ich, während ich durch das matte Fenster blickte.

      »Allerdings. Wir sind im Camden House, unserer alten Wohnung gegenüber.«

      »Aber was wollen wir hier?«

      »Wir haben von hier eine ausgezeichnete Aussicht auf jenen malerischen Pfeiler dort drüben. Komm', bitte, etwas näher ans Fenster, lieber Watson, nimm dich aber in acht, daß du nicht gesehen wirst, und guck' mal nach unserem alten Heim hinüber – dem Ausgangspunkt von so manchem unserer kleinen Erlebnisse. Ich will sehen, ob ich dich nach dreijähriger Abwesenheit noch überraschen kann.«

      Ich schlich mich vor und sah nach dem wohlbekannten Fenster. Ein Ausruf der Verwunderung und des Erstaunens entfuhr meinen Lippen. Die Rolljalousien waren heruntergelassen, das Zimmer war hell erleuchtet und auf dem Fenstervorhang war der Schatten eines Mannes auf einem Stuhl in scharfen Umrissen deutlich wahrnehmbar. Man konnte den eckigen Kopf, die breiten Schultern und das scharfgeschnittene Gesicht genau erkennen. Das Bild sah wie eine große schwarze Silhouette aus der Zeit unserer Großeltern aus. Es war ein getreues Konterfei von Holmes. Ich war dermaßen erstaunt, daß ich meine Hand ausstreckte, um mich zu überzeugen, ob er selbst wirklich noch neben mir stände. Er barst bald vor verhaltenem Lachen.

      »Gut so?« fragte er.

      »Bei Gott!« rief ich aus, »wunderbar!«

      »Ich hoffe, daß ich in der Zwischenzeit meine Erfindungskraft nicht eingebüßt habe,« sagte er in jenem Tone der Freude und des Stolzes, den der Künstler beim Anblick seiner eigenen Schöpfung empfindet. »Es sieht mir tatsächlich ähnlich, nicht wahr?«

      »Ich hätte geschworen, du wärst's.«

      »Das Verdienst der Ausführung gebührt dem Herrn Oskar Meunier in Grenoble, der ein paar Tage auf die Anfertigung des Modells verwandt hat. Es ist eine Wachsbüste. Die Aufstellung und alles übrige habe ich heute nachmittag während meines Aufenthaltes in der Bakerstraße selbst besorgt.«

      »Aber wozu das alles?«

      »Aus sehr gewichtigen Gründen, lieber Watson, weil ich gewisse Leute glauben machen will, ich sei zu Hause, während ich in Wirklichkeit anderswo bin.«

      »Du denkst also, die Zimmer werden beobachtet?«

      »Ich weiß, daß sie beobachtet werden.«

      »Von wem?«

      »Von meinen alten Feinden, Watson, von der reizenden Gesellschaft, deren Vorstand im Reichenbachfall ruht. Du mußt bedenken, daß ihnen, und nur ihnen allein, bekannt ist, daß ich noch lebe. Sie haben vermutet, daß ich früher oder später doch wieder in meine Wohnung zurückkehren würde, sie daher fortwährend beobachten lassen und meine Ankunft heute früh erfahren.«

      »Woher weißt du das?«

      »Weil ich ihre Wache wiedererkannte, als ich zum Fenster hinaussah. Es ist ein ungefährlicher Mensch, Namens Parker, ein armer Drehorgelspieler. Ich schere mich den Teufel um ihn, kümmere mich aber um so mehr um seinen gefährlichen Auftraggeber, den Busenfreund Mariartys, den Mann, der die Steine geschleudert hat, den schlauesten und verwegensten Verbrecher Londons. Dieser Bursche ist heute nacht hinter mir, Watson, und hat keine Ahnung, daß wir hinter ihm sind.«

      Auf diese Weise erfuhr ich allmählich, was mein Freund vorhatte. Von diesem stillen Platze aus sollte den Aufpassern aufgepaßt und sollten die Verfolger verfolgt werden. Jener Schatten drüben war der Köder, und wir waren die Jäger. Lautlos standen wir in der Dunkelheit und beobachteten die Vorübergehenden. Holmes rührte und regte sich nicht, aber er war zweifellos auf seiner Hut und richtete ein wachsames Auge auf alle Passanten. Es war kaltes, stürmisches Wetter, der Wind pfiff durch die lange Straße. Die meisten Leute trugen Ueberzieher und hatten den Kragen in die Höhe geschlagen. Ein paarmal hatte ich den Eindruck, als ob dieselbe Person wiederholt vorbeikäme, und besonders fielen mir zwei Männer auf, die vor dem Sturm im Torweg eines ein paar Häuser weiter oben liegenden Gebäudes Zuflucht zu suchen schienen. Ich machte meinen Freund darauf aufmerksam. Er zeigte jedoch nur einen gewissen Unwillen und blickte unausgesetzt auf die Straße hinaus. Er stampfte zuweilen mit den Füßen auf den Boden und trommelte mit den Händen an die Wand, ein Zeichen, daß er ungehalten war, weil seine Voraussetzungen nicht so ganz in der gehofften Weise eintrafen. Als die Straße allmählich leer geworden war, ging er unruhig auf und ab. Ich wollte gerade eine Bemerkung machen, als mein Blick zufällig auf das bekannte Fenster hinüberfiel und ich eine fast ebenso große Ueberraschung sah wie vorher.

      »Der Schatten hat sich bewegt!« rief ich ihm zu. In der Tat war uns nicht mehr das Profil, sondern der Rücken zugekehrt.

      »Natürlich

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