Repression und Rebellion. Karim El-Gawhary
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Karim El-Gawhary
Repression
und Rebellion
Arabische Revolution – was nun?
ISBN 978-3-218-01232-4
eISBN 978-3-218-01240-9
Copyright © 2020 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer
Fotos auf dem Schutzumschlag: AP Photo/Hussein Malla (vorne),
Akram Al yasiri (hinten)
Satz und typografische Gestaltung: Danica Schlosser, danicagrafik.de
Inhalt
Vom Unsinn, die arabische Welt in Jahreszeiten oder mit Koran-Zitaten erklären zu wollen
Ägypten zurück, Tunesien nach vorn
Das Aufbäumen der IS-Dschihadisten
Pax Autocratica: Die Heilige Arabische Allianz
Das arabische Dreigespann: Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit
Arabellion 2.0: Der Aufstand geht weiter
I can’t breathe: Ein arabischer Ausblick in der Corona-Krise
Einleitung
Vom Unsinn, die arabische Welt in Jahreszeiten oder mit Koran-Zitaten erklären zu wollen
Sie fuhren in einem Zug von der ägyptischen Hafenstadt Alexandria durch das Nildelta, Muhammad Eid und Ahmad Samir, zwei junge Straßenverkäufer. Muhammad bot normalerweise selbst gemachte kleine Malereien auf Holz oder Leder in Alexandria feil. Aber an diesem Tag hatte der Regen all seine Objekte zerstört. Er hatte keine Einnahmen. Als die beiden auf dem Weg nach Hause vom Schaffner im Zug kontrolliert wurden, konnten sie keine Fahrkarten vorweisen. Der Schaffner gab ihnen drei Optionen: Sie bezahlen das Ticket, er übergibt sie der Polizei oder sie springen aus dem fahrenden Zug. Da sie nicht genug Geld hatten und Angst, der Willkür der Polizei ausgeliefert zu werden, wählten sie die dritte Option und sprangen. Muhammad starb, als er neben den Gleisen aufschlug, Ahmad verlor ein Bein. Das Ticket hätte umgerechnet vier Euro gekostet.
Es ist eine Begebenheit, die symptomatisch dafür ist, wo die arabische Welt zehn Jahre nach dem sogenannten Arabischen Frühling steht. Wirtschaftliche und soziale Fragen bleiben völlig ungelöst, vielerorts ist es nur ein brutaler Repressionsapparat, der für Ruhe sorgt. Und nun setzt sich auf das Ganze noch die Krise der Corona-Pandemie, deren wirtschaftliche und soziale Auswirkungen alle Widersprüche noch verschärfen werden.
Es ist ein scheinbar düsteres Fazit, das ein Jahrzehnt nach dem Aufstand gegen die arabischen Diktatoren gezogen werden muss. Ägypten wird vom Militär regiert, in Syrien hat der Diktator gewonnen, regiert aber über einen Scherbenhaufen. Libyen versinkt im Chaos der Milizen und in einem blutigen Stellvertreterkrieg, genauso wie der Jemen. Und die ölreichen Golfstaaten werden autokratisch regiert wie eh und je.
Manche proklamieren da fast hämisch, dass nach dem Arabischen Frühling in der Region der politische Winter eingezogen sei. Aber kann man politische Prozesse tatsächlich als Jahreszeiten erklären?
Dieses Buch beschreibt die letzten zehn Jahre eines langfristigen Prozesses. Es schildert, wie das Rad von den alten Systemen zum Teil wieder zurückgedreht wurde. Wie militante islamistische Bewegungen wie der sogenannte „Islamische Staat“, der IS, das entstandene Vakuum zu füllen suchten. Wie die Autokraten gemeinsam danach trachten, jede auch noch so kleine Bewegung hin zu Veränderung in der Region zu blockieren und eine regionale Ordnung zu schaffen, die der ägyptische Politologe Amr Hamzawy einmal als „Pax Autocratica“ bezeichnet hat. Doch dies ist keine detaillierte Chronik der arabischen Welt der letzten zehn Jahre. Vieles wird nur gestreift, etwa der Bürgerkrieg in Syrien, manches wird ausgelassen, wie der palästinensisch-israelische Konflikt, der eine ganz eigene Erzählung braucht.
Das Buch fasst uns an der eigenen Nase und beschreibt, warum die Politik Europas in der Region mit dem Hashtag #fail charakterisiert werden kann. Die Lektion, dass arabische Autokraten keine Stabilität bringen und nicht die Lösung, sondern ein großer Teil des Problems sind, wurde in Europa immer noch nicht gelernt. Die europäischen Regierungen hofieren sie immer noch als Antiterrorkämpfer und als jene, die die Flüchtlingsströme aufhalten sollen. Derweil sind gerade sie es, die Terror und Flüchtlinge produzieren.
Aber die Pax Autocratica bekommt zunehmend Gegenwind. Gerade in den letzten Jahren formiert sich Widerstand, eine Art Arabellion 2.0. In Algerien und im Sudan haben sie es geschafft, ihre Langzeitautokraten loszuwerden. Nun kämpfen sie nach deren Sturz darum, auch das System Abdelaziz Bouteflika und Omar Al-Baschir umzukrempeln. Es ist ein ermüdender Kampf bergauf. Genauso wie der im Libanon und im Irak, wo die Menschen eines politischen Systems überdrüssig geworden sind, das die Religionszugehörigkeit in den Mittelpunkt der Politik stellt und sie gegeneinander aufhetzt. Hier findet ein grundsätzlicher Wandel statt: Die soziale Identität und nicht die religiöse Identität rückt ins Zentrum. Der junge arbeitslose Schiite hat entdeckt, dass ihn viel weniger von seinem jungen sunnitischen Gefährten unterscheidet, der das gleiche Schicksal teilt, als von seiner eigenen politischen Elite, die sich durch Korruption und Misswirtschaft schamlos bereichert.
Die Art des Regierens, die Misswirtschaft und die Korruption werden in vielen Teilen der arabischen Welt inzwischen infrage gestellt. Repression funktioniert, das haben die Jahre nach der Arabellion bewiesen. Aber sie hat offensichtlich auch ein Ablaufdatum, wenn die drängendsten Probleme der Menschen, vor allem der jüngeren Generation, nicht gelöst werden. Deren völlige Perspektivlosigkeit bedeutet, dass viele von ihnen in den festgefahrenen Strukturen kaum ihren Lebensunterhalt sichern, geschweige denn ihren Träumen nachgehen können.
Woher kommt die Unruhe in der arabischen Welt? Hat sie ihre Wurzeln in den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, in denen die Mehrheit der Araber und