Uwe Johnson. Bernd Neumann
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Vom Juni 1945 bis zum Juli 1946 besuchte der Knabe die Schule Recknitz im Kreis Güstrow. Durch diese Schule zuallererst erhielt die neue Zeit Zugang zu seinem Kopf, wenngleich man zu Hause in der Recknitzer Schmiede inzwischen den »Führer« von der Wand genommen hatte. In der Schule freilich und den anderen öffentlichen Gebäuden war bereits ebenso überlebensgroß das Bildnis eines anderen aufgehängt. Und die Handschrift dieses anderen bestimmte auch, was es zu lernen galt. Auftrat der Marschall Jossif Wissarionowitsch Stalin, Sieger im »Grossen Vaterländischen Krieg«, auch »Vater aller Völker« geheißen. Die eine politische Ikone löste die andere ab. Ohne Übergangsperiode, in hartem Schnitt. Nicht mehr der aus Braunau sah, »vertrauensvoll und gerissen«, in die Gute Stube hinein, sondern der gütig anzuschauende ehemalige Priesterseminarist aus Georgien, der schnauzbärtige Mann aus dem Gouvernement Tiflis, dessen Biographie die Besatzungsmacht überall auszuteilen begann.
Nun kam er unter ein neues Regime, das mit dem alten den Anspruch auf Allmacht gemeinsam hatte – die Vorzeichen, Fahnen und Bilder waren verschieden, der Anspruch und seine Konsequenzen die gleichen; das hatte dieser kluge, scharf beobachtende Junge schnell heraus. (Wolff in: »Wo ich her bin ...«, S. 157)
Das Kriegsende bedeutete für die Kinder gewiß nicht die »Befreiung«, aber doch immerhin ein »Ende des Bombens«, einen Neuanfang und das »Jahr der letzten Spiele«. Die Normalisierung des Lebens begann und mit ihr eine Systematisierung der Arbeit des Überlebens, mit bald schon wieder geregeltem Schulunterricht und schüchtern keimenden neuen Plänen. Die schlossen erste Anflüge von »Liebe« mit ein.
Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen begannen wieder nach vorn zu leben. Erna Johnson fürchtete die Russen nicht übermäßig. Ihr Selbstvertrauen und ihre Entschlußkraft schienen ungebrochen. Auch ihr Anspruch auf Glück und die stete Hoffnung auf sozialen Aufstieg hatten die Götterdämmerung des »Dritten Reichs« und seines Frauenverbands offenbar wenig beschadet überstanden. Der Knabe spielte derweil noch Plumsack auf einer »rauschhaft grünen Wiese«, Wettspringen vom Dach der Recknitzer Kirchenscheune hinein in Fässer voll Heu, und im Winter ging es mit dem Schlitten die Hänge hinab. Mit dem Peekschlitten, den Onkel Milding kunstreich gefertigt hatte, befuhr man die überschwemmten, gefrorenen Wiesen im Recknitzer Au-Graben, einer Sumpflandschaft, die vom »Zehlendorfer Damm« durchquert wurde, unweit vom »Weitendorfer Tann« gelegen. Diese Landschaft wird – zum Teil – die Landschaft der Babendererde sein. Weiterhin ist die Erinnerung Uwe Johnsons an den Recknitzer Winter von 1945/46 eingegangen in Gesines Heimaterinnerung, die sich, den Blick auf die vom gefrorenen Wasser eingeschlossenen Halme geheftet, im Abschlußband der Jahrestage ein Leben im mecklenburgischen Winter imaginiert. Eine Reminiszenz an Kinderzeiten von nahezu Proustscher Eindringlichkeit. So etwas prägte die Kinder Mecklenburgs für ihr Leben, »und wenn eines einhält für einen Augenblick, sieht es deutlich wie niemals wieder die einzelnen Halme, die in dem gefrorenen Wasser eingeschlossen sind«. (Begleitumstände, S. 31) – Eines der ganz seltenen Erinnerungsbilder im Werk Uwe Johnsons übrigens, in denen sich ein winterliches Mecklenburg reproduziert. Ansonsten pflegte seine Erinnerung dem frühen Sommer den Vortritt zu lassen. Besonders gern dem Mai, wo dieser am heißesten ist.
Auch eine maienhafte Schülerliebe hat sich wohl in Recknitz ereignet. Im Schuljahr 1945/46 trafen sich zwei junge Menschen im Sog des verlorenen Kriegs. Beider Bekanntschaft wird auf der Güstrower Schule begonnen haben, an die Uwe Johnson gewechselt war. Der Schüler begann dort seine Laufbahn als ein – zunächst noch in Recknitz wohnhafter – »Fahrschüler«. Den Erwachsenen galten die zwei, die in Güstrow aufeinandertrafen, in Recknitz über die Felder gingen, als sozial nicht ebenbürtig. Der Knabe hatte immerhin noch bei Verwandten unterzukommen vermocht. Das Mädchen dagegen hatte alles verloren. Also verliebte sich der junge Uwe, jedenfalls nach der bestimmten Ansicht der Mutter Erna, »nach unten«. »Denn«, so schreiben die Begleitumstände, »das Mädchen steht im Ansehen einer Familie, die hat im Schlesischen alles verloren, das Haus ist zerschossen, die Möbel sind verbrannt.« (ebd.) Solch Mädchen gab keinen Umgang ab für den Sohn einer ehemaligen Honoratiorenfrau. So wurde 1946 im Bereich der Kinderliebe eine soziale Ordnung wiederhergestellt, die nur noch im Kopf der unbelehrten Erwachsenen existierte. »Entlang dieser Linie [von Besitz und Nicht-Besitz] ist zu trennen.« (ebd., S. 31 f.) Als die Trennung der beiden Kinder bereits durchgesetzt war, schrieben sie einander noch »Botschaften, verschlüsselt in den Buchstaben des kyrillischen Alphabets (so sicher sind sie, sie hätten etwas zu verbergen)«, (ebd., S. 32) Endlich erschien »die alte Ordnung von neuem eingerichtet; ein jedes Kind weiss nun seinen Platz«. Man hatte den beiden »den Kopf gewaschen«. Nicht einmal der Name dieser frühesten Liebe Uwe Johnsons ist auf uns gekommen; doch spielt sie ihre Rolle im Dritten Buch.
GÜSTROW – STADT ERNST BARLACHS.
DIE WOHNUNG AM ULRICHPLATZ.
EINE MUTTER UND IHRE KINDER IN DER NACHKRIEGSZEIT
Im Spätsommer des Jahres 1946, irgendwann zwischen August und September, zogen die Johnsons nach Güstrow. In den ersten drei Jahren mußte die Familie häufig umziehen, ehe sich ein Domizil für längeres Bleiben fand. Man wohnte zuerst in Güstrows Kinderheim. Dann in der Prahmstraße 30, danach in der Rostocker Chaussee Nr. 20, weiterhin am Spaldingsplatz (das wird 1948 gewesen sein), bevor man schließlich die Wohnung fand, die Uwe Johnsons Zuhause bis ins Jahr 1956 war. Das Haus lag am Ulrichplatz, benannt nach dem Herzog Ulrich, erschien aber an der Feldstraße durchnumeriert. Daher findet sich als Angabe »Feldstr. 19« neben »Ulrichplatz 19«. Wohnraum war knapp im Güstrow des Nachkriegs. So wird Erna Johnson sehr zufrieden gewesen sein, im Winter 1949 mit ihren beiden Kindern die Wohnung im Haus an der Feldstraße beziehen zu können. Die Wohnung war eine Dienstwohnung. Deshalb wurde sie auch, als Mutter und Schwester 1956 »in den Westen eingegangen« waren, umgehend geräumt. Der Sohn versteigerte die verbliebenen Möbel und hat das Ganze nahezu maßstabsgetreu in die Mutmassungen eingehen lassen (Flucht der Frau Abs). Die Wohnung lag nicht allzuweit entfernt vom Bahnhof Güstrow, dem Arbeitsplatz der Mutter. Steht man heute in der Güstrower Feldstraße vor dem unverändert erhaltenen Haus, hat man im obersten Geschoß zur Linken die Wohnung der Johnsons während sieben entscheidender Güstrower Jahre vor sich. Zwei Zimmer mit Wohnküche. Die Verhältnisse waren begrenzt. Selbst die Fenster dieser Wohnung fielen kleiner aus als die ihres Pendants auf der rechten Seite. Das Haus besitzt einen kleinen Vorgarten, mit Büschen darin und von einer Hecke umgeben, in der wohl schon zu Uwe Johnsons Zeiten ein ganz und gar umwachsener Briefkasten stand. Eine enge Holztreppe führt in die Wohnung des obersten Geschosses. Wer über diese »enge knackende Treppe« (Babendererde) die Wohnung verließ, gelangte hinaus auf die Feldstraße und auf den Ulrichplatz, der ein Dreieck bildet. Gegenüber befindet sich eine öffentliche Telefonzelle.
Hier war der Schüler, der als Jürgen Petersen in der Babendererde auftritt, noch einmal zu Hause wie später wohl nirgends mehr. Johnsons Schulfreund Heinz Lehmbäcker, er war einige Male bei Johnsons zu Besuch, erinnert die peinliche Ordnung in dieser Wohnung. Die Räume machten notgedrungen einen eher ärmlichen, dabei stets korrekten Eindruck. Die kleinbürgerliche Enge und spießige Signatur dieses Zuhauses hat der Heranwachsende irritierend gespürt. In der Babendererde reflektiert Jürgen Petersen: »Petersens gute Stube: dachte er mit längst abgenutztem Hohn. Vor seinen Augen stand noch das grüne Sofa, das war Plüsch in unangenehmen Formen.« (S. 45 f.) Für Erna Johnson muß sich der Wechsel aus dem Anklamer Einfamilienhaus in die Reichsbahnwohnung als ein erheblicher sozialer Abstieg ausgenommen haben. Ihre Unzufriedenheit wuchs mit der Herausbildung der neuen »sozialistischen Ordnung«, um so mehr als umgekehrt ihr Sohn diese neue Ordnung schon bald zu unterstützen begann. Beide Kinder gingen in nicht allzu weit entfernte Schulen. Die Schwester Elke in die nur wenige Straßen, ca. zehn Minuten