Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein. Pascale Karlin
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Einleitung
Als ich mir die ersten Notizen zu dieser Betrachtung des Autismus gemacht hatte, wusste ich noch nicht, wie komplex die ganze Arbeit werden würde, sobald ich nicht einfach meine Erfahrungen berücksichtigte, sondern versuchen würde, ein möglichst breites Band an Wahrnehmungen und Lebenswelten von Menschen mit Autismus zu beachten und verständlich zu erklären. Mein Ziel ist es nicht, die Symptomatik in all ihren Details zu beschreiben, sondern den Hintergrund, warum diese Symptome auftauchen, verständlich zu machen. Bei meinen Recherchen ist mir aufgefallen, dass von Autismus betroffene Menschen sehr wohl imstande sind, ihre Wahrnehmung und Lebenswelt teilweise sehr genau zu schildern, was ihnen aber fehlt, ist die Reflexion darüber, die Frage nach dem Warum. Diese Lücke will die vorliegende Abhandlung schließen, und zwar nicht auf der Grundlage wissenschaftlicher Erklärungen, sondern auf der Ebene des individuellen Menschen, mit der wir tagtäglich praktisch arbeiten können.
Lese ich wissenschaftliche Ergebnisse zur Autismus-Forschung, dann hat auch diese „autistische Züge“. Es sind lauter kleine Puzzleteile, die aber nicht miteinander in Verbindung zu stehen scheinen und sich teils eher widersprechen, als ein zusammenhängendes Gefüge erkennen zu lassen. Den Grund dafür vermute ich in den unterschiedlichen Meinungen darüber, was Autismus sei und was alles in dieses Spektrum gehört. Da sich das Spektrum aber aus ganz unterschiedlichen „Beeinträchtigungen“ zusammensetzt, wird es auch in Zukunft schwierig sein, Autismus tatsächlich zu beschreiben. Ich halte diese Vermischung deshalb nicht für sinnvoll, weil sie mehr Verwirrung als Klarheit schafft. Die gleiche Ansicht vertritt auch die Autismus-Betroffene und Autorin Temple Grandin, wenn sie sagt: „Unglücklicherweise zwängt das gegenwärtige diagnostische System alle Formen des Autismus in dasselbe Diagnoseschema. Aus medizinischer Sicht ist das so, als vermische man Äpfel und Orangen.“ (Ich bin die Anthropologin auf dem Mars, München 1997).
Anhand des vorhandenen Materials – Berichte von Betroffenen und Studien – Autismus zu erklären, kann daher nur fragmentarisch gelingen. So habe ich nach einem anderen Weg gesucht, der zwar nicht mit wissenschaftlichen Belegen überzeugen kann, dafür aber dem Bedürfnis der Betroffenen und ihrer Begleitpersonen, tatsächlich verstanden zu werden beziehungsweise zu verstehen, wohl näherkommen dürfte. Ich bemühe mich darum, die Lebenswelten der Menschen zu verstehen und hier den gemeinsamen Nenner der von Autismus betroffenen Menschen zu finden.
Dieses Gemeinsame, mit dem alle Menschen mit Autismus zwar individuell, aber dennoch kollektiv konfrontiert sind, ist ihre Art der Selbstwahrnehmung. Auf diese Weise lassen sich dann auch Widersprüche miteinander verbinden und verstehen. Wenn von Selbstwahrnehmung die Rede ist, dann ist es notwendig, dass wir einen gemeinsamen Nenner der Begriffe finden, damit nicht neue Missverständnisse entstehen. Daher will ich kurz schildern wie die Begriffe „Ich“, „Selbst“ und „Ego“ in dieser Betrachtung zu verstehen sind:
Mit „Ich“ bezeichne ich das eigene Selbst und verwende es immer dort, wo ich im Sinne von Ich-im Unterschied zu einem anderen Ich (Du) auf mich selbst (objektiv) hinweisen möchte. Für mich als Menschen mit Autismus ist „Ich“ nicht ein gefühltes Selbst, sondern es ist lediglich als erste Person Singular im Sinne des Personalpronomens zu verstehen.
Mit „Selbst“ meine ich ein einheitliches, konsistent fühlendes, denkendes und handelndes Wesen. Es hat die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung in Bezug auf Empfindungen und ist eine Verstärkung zur Reflexion und Betonung des Begriffs „Ich“.
„Ego“ – das lateinische Wort bedeutet „Ich“ und ist nicht mit Egoismus gleichzusetzen.
Wie es mir möglich ist, diese Art der „Beobachtung des Autismus“ zu betreiben, hat mit meiner eigenen autistischen Wahrnehmung zu tun. So wie Temple Grandin, die als Autistin eine Expertin für Tierhaltung wurde, sich ganz in die Perspektive von Rindern hineinversetzen kann, so kann ich mich ganz in die Perspektive unterschiedlicher Lebenswelten von Menschen (und Tieren) hineinversetzen. Was ich dabei erlebe, sind nicht in erster Linie gedankliche, also kognitive Schlussfolgerungen. Es ist so, dass ich die unterschiedlichen Ebenen des Menschen in einer Art Struktur bildlich wahrnehme. Die große Herausforderung besteht darin, diese Bilder in Worte zu übersetzen. Früher habe ich nur Menschen ohne Autismus auf diese Weise gescannt, heute tue ich es vor allem auch bei Menschen mit Autismus. Die erhaltenen Bilder lege ich wie „transparente Landkarten“ übereinander und vergleiche die Strukturen. Anhand der Abweichungen kann ich versuchen, die unterschiedlichen Lebens- und Wahrnehmungswelten zu vergleichen, um so zu verstehen, wo die Missverständnisse entstehen können. Die Art, wie Grandin „methodisch“ bei der Konstruktion von Viehzuchtanlagen vorgeht, kann mancher Wissenschaftler als unwissenschaftlich bezeichnen. Auch meine Art der Arbeit ist in diesem Sinne nicht wissenschaftlich, sondern phänomenologisch. Ob meine Wahrnehmung tatsächlich zutrifft, kann nur in der Praxis festgestellt werden.
Die Missverständnisse sind nicht einseitig. Bis vor Kurzem bin ich davon ausgegangen, dass alle Menschen diese „Fähigkeit“ der Wahrnehmung haben müssen. Wenn dann „Ergebnisse“ geäußert wurden, die meinen eigenen „Erkenntnissen“ erheblich widersprachen, verlor ich immer wieder die Geduld. Zum Beispiel war für mich nicht verständlich, wie sehr Begleiter und Begleiterinnen in ihren Handlungen bei Menschen mit Unterstützungsbedarf ihre eigenen Emotionen, Gefühle von Zu- und Abneigung hineinfließen lassen. Andererseits war meine akribische Sachlichkeit für viele Menschen ein Zeichen von fehlender Empathie.
Das Ziel dieser Abhandlung ist, zu erkennen, dass alle Menschen grundsätzlich dieselben Bedürfnisse haben: Sie wollen geliebt, verstanden, respektiert und in ihrem So-Sein ohne Wenn und Aber angenommen werden.
Autismus, ein individueller Lebensweg
Jeder Mensch geht seinen ganz eigenen, individuellen Lebensweg und davon sind Menschen mit Autismus nicht ausgeschlossen, auch sie haben einen biographischen Lebenslauf und eine stetige Entwicklung. Daher ändert sich die Wahrnehmung im Laufe eines Lebens teilweise sogar erheblich.
Wenn es darum geht, wie Menschen mit Autismus ihre Umwelt erleben, dann handelt es sich immer auch um Sinneswahrnehmung und ganz besonders auch um die Selbstwahrnehmung. Und die Selbstwahrnehmung von vielen Menschen mit Autismus ist genau der Grund, warum ich für diese Betrachtung den Titel Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein gewählt habe.
Die Fragen, denen ich in diesem Buch nachgehen möchte, sind folgende:
• Warum ist es so schwierig, Autismus zu verstehen?
• Was sind alternative, „Autismus-geeignete“ Kommuni kationsmodelle?
• Wie sieht eine „Autismus-freundliche“ Begleitung aus?
• Darf Autismus sein?
So genannte autistische Symptome wie etwa selbstverletzendes Verhalten, Schreien, ununterbrochene stereotypische Handlungen sind von außen gesehen unglaublich einschneidend und nicht selten schrecklich mit anzusehen. Da die Erklärung, warum das alles geschieht, meist fehlt, sind Begleitpersonen in solchen Situationen oft überfordert und stehen dem Ganzen ohnmächtig gegenüber. Schon das allein ist ein schreckliches Gefühl. Die schwerwiegendste Folge davon ist aber die, dass diese Verhaltensweisen ohne verständliche Erklärung einen großen Spielraum für Mutmaßungen, Interpretationen, Phantasien und Vorurteilen öffnen.