Aus der Sicht der Fremden. Maria von Hall
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Der alte Fahrplan des Unternehmens meines Vaters
Ein Foto aus dem Familienalbum
aus dem Jahre 1938
Das Foto erinnert an einen Sonntagsausflug nach Porombka außerhalb der Stadt Bielitz. Das Bild stammt von meinem Vater Friedrich O. Vor dem Auto der Marke „Steyr-Puch“ stehen meine Mutter Maria O., meine Schwester Toni und mein älterer Bruder Fritz. Zu dieser Zeit war meine Mutter bereits mit meinem Bruder Karl schwanger. Ich kam schließlich als letztes Kind am 01. Januar 1940 zur Welt.
***
Unsere Heimatstadt Bielitz wurde am 03. September 1939 durch die Nationalsozialisten besetzt. Ab diesem Zeitpunkt hat sich alles in der Stadt von einem Augenblick auf den anderen geändert. Alle hatten plötzlich Angst, unabhängig von ihrer Nationalität oder Herkunft.
Mein Vater weigerte sich, in die Hitlerpartei NSDAP einzutreten, woraufhin ihm als Strafe die Konzession für sein Unternehmen entzogen wurde. Zusätzlich erfolgte die Beschlagnahme aller Firmenwerte, obwohl er ein Deutscher war. Mein Vater musste sich mit dem Verlust seines Busunternehmens abfinden, aber er blieb nicht untätig. Er bekam schnell ein neues Einkommen durch ein Engagement in der Fabrik Schwabe. Deren Direktor und Besitzer Herr Schwabe stellte meinen Vater als Konstrukteur ein. Zu dieser Zeit wurden in der Fabrik Elektromotoren produziert.
Mein Vater bei Schwabe, Bielitz 1942
***
Hitler war unberechenbar! Ihm hat das eingenommene Land Polen nicht gereicht, er jagte seine Soldaten weiter nach Osten, um Russland zu erobern, und das war sein großer Irrtum, denn er hat die niedrigen Temperaturen Russlands – bis minus 60 Grad in Sibirien – nicht berücksichtigt. Seine Armee ist nicht weiter als bis nach Stalingrad und zum Fluss Wolga gekommen. Die Soldaten waren gegen die Kälte nicht entsprechend ausgerüstet und dadurch unfähig zu kämpfen. Die Kälte lähmte sie und viele sind einfach erfroren.
Zu dieser Zeit sind auch viele deutsche Soldaten von der russischen Front nach Bielitz geschickt und mit abgefrorenen Beinen und Händen in die Krankenhäuser der Stadt eingeliefert worden. Die Verluste der Deutschen waren enorm und ab diesem Zeitpunkt gewannen die Russen Oberhand, drängten die deutschen Soldaten unaufhaltsam zurück in den Westen und beendeten den Krieg mit dem Sieg in Berlin. So kam es, dass sich die russische Front im Winter 1943/44 unaufhaltsam unserer Stadt näherte. Damals hatte sich schon längst der polnische Untergrund gegen die Deutschen organisiert. Die Atmosphäre in der Stadt war angespannt und die Furcht war förmlich immer greifbar. Die Menschen verfolgten jeden Tag mit Angst die Nachrichten im Radio und es wurde täglich über die Erfolge der deutschen Armee berichtet, während die Realität an der Front ganz anders aussah.
Eines Tages ließ der Fabrikant, Herr Schwabe, meinen Vater zu sich rufen und sagte: „Herr Ingenieur, Sie müssen Bielitz verlassen, der Russe steht schon vor der Tür!“ Mein Vater reagierte erschrocken: „Wieso denn? Ich habe doch niemandem was getan!“ Herr Schwabe blickte ihn ernst an und sagte: „Sie haben aber einen deutschen Namen und vier Kinder zu Hause, Sie müssen weg!“ Mein Vater war ratlos und perplex, während Herr Schwabe schnell weitersprach. „Ich schicke Sie zu meiner Tochterfirma in Bayern, ich bitte Sie aber, meinen verwundeten Sohn aus der Tschechei mitzunehmen. Sie bekommen auch eine Krankenschwester als Begleitperson mit.“
Ich war damals viereinhalb Jahre alt. Noch heute habe ich meine Eltern vor Augen und erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie erregt mein Vater an diesem Tag nach Hause kam und in die Küche stürzte. Er nahm meine Mutter in die Arme und sagte von Angst erfüllt:
„Mitzi, wir müssen flüchten! Die Russen stehen kurz vor Bielitz! Du musst mit den Kindern sofort weg, leider alleine, am besten zu Hedi nach Graz! Mich schickt Herr Schwabe nach Bayern, denn sein Sohn ist in der Tschechei verwundet worden und ich muss ihn nach Bayern bringen!“ Mit dem Sparbuch in der Hand ging er zu meiner Mutter und sagte: „Vergiss das Sparbuch nicht und nehmt einen Teppich mit, damit ihr unterwegs nicht auf dem nackten Boden schlafen müsst! Und auch Zigaretten!“
Ich stand auf der Schwelle zwischen Küche und Balkon, die Sonne wärmte mir den Rücken und ich war gerade dabei, eine Dampfnudel mit Butter zu essen, die vom Mittag übriggeblieben war, als das Gehörte meine Sinne zutiefst erregte. Dieses Erlebnis grub sich tief in meine Erinnerung ein – so hatte ich meine Eltern schließlich noch nie erlebt!
Kurz darauf ging mein Vater weg und meine Mutter machte sich auf den Weg nach Biala, einer kleinen Stadt auf der anderen Seite des Flusses Bialka, in der ihre Kusine wohnte. Meine Mutter wollte ihr Bescheid geben, dass wir Bielitz verlassen würden. Sie nahm meinen Bruder Fritz mit, der damals zehn Jahre alt war. Unterwegs aber ereignete sich etwas, weshalb sie nie in Biala ankommen sollte. Als meine Mutter an der Haltestelle „Stadtberg“ aus der Straßenbahn ausstieg, sah sie eine Frau, die in der wartenden Menschenmenge zusammengesunken war. Sie erkannte sofort, dass diese einen epileptischen Anfall hatte, und der starke, böige Wind entblößte den zuckenden Körper. Mutter eilte zu der krampfenden Frau und forderte andere Passantinnen dazu auf, ihr zu helfen. Gemeinsam schafften sie die kranke Frau in ein nahe gelegenes Treppenhaus und schlossen das Tor hinter sich. Mein Bruder musste draußen warten. Ein Mann in Zivil, der die ganze Szene an der Haltestelle beobachtet hatte, war den Frauen gefolgt. Er kam in das Haus und befahl: „Hören Sie sofort mit der Hilfe auf!“ Meine Mutter regte sich furchtbar auf. „Gehen Sie weg! Sie haben hier jetzt nichts zu suchen!“, schrie sie ihn an. „Aufhören! Das ist eine Polin!“ „Sie ist auch ein Mensch!“, schrie meine Mutter automatisch aufgeregt zurück, aber in diesem Moment erkannte sie, wen sie da vor sich hatte – leider zu spät. Der Mann verlangte nach ihrem Ausweis, notierte sich ihren Namen und ihre Adresse und verließ das Haus.
Wie ein Blitz rannte meine Mutter hinaus, nahm meinen Bruder an der Hand und eilte nach Hause zurück. Als sie dort ankam, fing sie sofort an, unsere Sachen zu packen. Sie packte nur das Nötigste für uns Kinder ein und band den dicken Perserteppich zu einer Rolle zusammen. Wir sollten gleich schlafen gehen, denn am nächsten Tag mussten wir sehr früh aufstehen und unsere Wohnung in der Mackensenstraße 11 verlassen. Trotz der frühen Stunde bot sich uns auf dem Bahnhof ein ungewöhnliches Bild, und in dem Augenblick begriffen wir, dass wir nicht die Einzigen waren, die aus der Stadt flüchten wollten. Auf dem Bahnsteig und überall standen viele Menschen und weiter hinten kamen weitere, um den Zug zu erreichen. Dieser war aber schon voll. Die Menschen drängten jedoch weiter hinein und wir wurden förmlich mitgerissen, nur um uns wenig später dicht gedrängt im Inneren des Zuges wiederzufinden. Um mich herum wurde es plötzlich ganz dunkel und mir fehlte die Luft zum Atmen. Ich fing an zu schreien, ich wollte mich aus der Enge befreien, aber es ging nicht. Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter: „Vater ist da! Wir müssen raus! Schnell!“ Meine Mutter kämpfte sich den Weg nach draußen frei, meine Geschwister wurden hinuntergezerrt und ich spürte, wie mich starke Hände hochhoben. Ich wurde über die Köpfe der Menschen den nächsten Händen übergeben und durch das Wagonfenster hinaus meinem Vater gereicht. Ich war gerettet! Mein Vater hielt mich fest in seinen Armen und bahnte uns den Weg durch die Menschenmenge, damit wir in den