Der letzte Prozess. Thomas Breuer
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Immer wieder ging ein Raunen durch die Reihen der Besucher, während das leise Klappern der Laptoptastaturen im Raum hing. Fabian Heller hatte Mühe, auf seinem Tablet mitzukommen. Außerdem versuchte er zwischendurch immer wieder, irgendeine Regung im Gesicht des Angeklagten zu erkennen. Reinhold Hanning aber zeigte keine Regung. Mit gebeugtem Kopf blickte er auf den Tisch, die Hände im Schoß gefaltet. Das alles hier schien nichts mit ihm zu tun zu haben. Dabei hatte er doch, wie Heller gelesen hatte, bei seiner Vernehmung im vergangenen Jahr zugegeben, dass er als Wachmann in Auschwitz gearbeitet hatte.
Der Oberstaatsanwalt kam nun zu der Karriere Reinhold Hannings innerhalb des NS-Apparates. Nach der Volksschule habe er zunächst in einer Fahrradfabrik gearbeitet und sich im Juni 1940 zur Waffen-SS gemeldet. Als Angehöriger der SS-Division Das Reich habe er auf dem Balkan und später in Russland gekämpft, bis er Anfang 1942 als Sturmmann nach Auschwitz gekommen sei. Dort habe seine Karriere Fahrt aufgenommen: im Februar 1942 Beförderung zum SS-Rottenführer, im September zum SS-Unterscharführer. Dass ihm nur die Verbrechen ab 1943 zum Vorwurf gemacht wurden, begründete der Staatsanwalt damit, dass Hanning kurz vorher einundzwanzig Jahre alt geworden sei und damit volljährig. Zu der Zeit müsse er zudem gewusst haben, woran er sich da beteiligte.
»Reinhold Hanning waren sämtliche Tötungsarten und -methoden bekannt«, schloss der Oberstaatsanwalt. »Ihm war bewusst, dass sämtliche Tötungsmethoden ständig bei einer hohen Zahl von Menschen angewandt wurden und dass auf diese Art und Weise und mit der geschehenen Regelmäßigkeit nur getötet werden konnte, wenn die Opfer durch Gehilfen wie ihn bewacht wurden. Er wollte mit seiner Wachdiensttätigkeit die vieltausendfach geschehenen Tötungen der Lagerinsassen durch die Haupttäter fördern oder zumindest erleichtern.« Mit diesen Worten zog sich der Oberstaatsanwalt hinter seinen Aktenstapel zurück.
Nun hatte die Verteidigung das Wort. Hannings Rechtsanwalt verschränkte seine Arme vor der Robe und verkündete: »Unser Mandant wird sich derzeit nicht zur Sache äußern.« Stattdessen stellte er zunächst den Antrag auf Widerspruch der Verwertbarkeit der Aussagen seines Mandanten bei dem Verhör im Jahre 2014. Reinhold Hanning sei von den Ermittlern überrascht worden. Der alte Mann sei dieser überfallartigen Situation nicht gewachsen gewesen und sei Opfer einer »kognitiven Schwäche« geworden. Entsprechend sei sein Geständnis, in Auschwitz tätig gewesen zu sein, nicht gerichtsverwertbar. Eine Beteiligung an den Morden bestreite er ohnehin grundsätzlich. Weitere Aussagen werde er zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht machen.
Stattdessen referierte der Verteidiger nun seinerseits den Lebenslauf des Angeklagten. Danach war Hanning seit 1940 beim Militär gewesen und 1944 in englische Kriegsgefangenschaft geraten. Am 20. Mai 1948 sei er daraus wieder entlassen worden, habe ein Jahr lang als Koch bei der Standortverwaltung gearbeitet, anschließend als Verkäufer und Ausfahrer in einer Molkerei, die er 1969 übernommen und bis 1984 geführt habe. In diesem Vortrag fiel nicht ein einziges Mal das Wort Auschwitz und auch von der SS-Mitgliedschaft seines Mandanten sprach der Rechtsanwalt nicht.
Fabian Heller konnte das Unwohlsein, das sich angesichts dieser technischen Abarbeitung eines Bereichs des wohl umfassendsten Massenmordes aller Zeiten im Gerichtssaal ausgebreitet hatte, geradezu mit Händen greifen. Wie musste den Opfern wohl zumute sein, deren individuelles Leid derart technokratisch auf ein juristisches Taktieren zu Gunsten des Täters reduziert wurde?
Das schien auch die Richterin zu spüren und so verkündete sie eine Anmerkung, bevor die Beweisaufnahme eröffnet würde. Sie stellte fest, dass dieser Prozess ein ganz besonderer sei, weil er eine politische Dimension habe. Und sie machte klar, dass es vor allem um die individuelle Schuld des Angeklagten gehe. »Der geschichtliche Kontext, das Grauen von Auschwitz, ist hinreichend geklärt«, stellte sie klar und ließ ihren Blick durch den Saal gleiten, bis er sich an dem Verteidiger Hannings verfing. »Darum wird es hier in Detmold nicht mehr gehen!«
Heller verstand das als Warnung an die Adresse der Verteidigung, nicht zu versuchen, unnötige Nebenkriegsschauplätze aufzumachen und Nebelkerzen zu werfen.
Hier werde es nun vielmehr um das Anliegen der Opfer gehen, die Geschichte ihres Leidens vor einem deutschen Gericht vorzutragen. »Und dem wollen wir nachkommen«, sagte die Richterin in einem Tonfall, der keinerlei Zweifel zuließ.
Nachdem das geklärt war, eröffnete sie die Beweisaufnahme, rief den Zeugen Leon Schwarzbaum in den Zeugenstand und forderte ihn auf, zunächst seine biografischen Daten zu Protokoll zu geben. Der vierundneunzig Jahre alte Mann wirkte gefasst, aber seinem Gesicht glaubte Heller das Leid ansehen zu können, das er seit über siebzig Jahren mit sich herumtrug. In seinem schwarzen Anzug und mit dem schütteren Haar wirkte er älter und gebrechlicher als Reinhold Hanning.
Schwarzbaum entfaltete einen Zettel, blickte kurz darauf und berichtete dann, dass er in Hamburg geboren worden und im Alter von drei Jahren mit seiner Familie in die Heimat seiner Mutter, nach Bedzin in Polen, vierzig Kilometer von Auschwitz entfernt, übergesiedelt sei. Dort habe er ein gutes Leben gehabt, mit Musik und Sport.
»Dann brach das Grauen über uns herein«, sagte er tonlos. 1943 sei das gewesen, als seine Eltern abgeholt und nach Auschwitz-Birkenau verschleppt worden seien, am 22. Juni. In den folgenden drei Tagen seien viele Bedziner Juden, unter ihnen seine Eltern, vergast worden. Vier Wochen später hätten die Nazis dann ihn abgeholt. »Fünfunddreißig Mitglieder meiner Familie wurden ermordet«, las Leon Schwarzbaum von seinem Zettel ab und Heller bewunderte den alten Mann für die Haltung, die er hier im Gerichtssaal angesichts dieser fürchterlichen Erlebnisse bewahrte. »Man ahnte, was in Auschwitz geschah. Die Maurer, die dort Gaskammern bauten, erzählten davon. Eltern warfen daraufhin ihre Kinder aus den Zügen in der Hoffnung, dass wenigstens diese überlebten.« Bei der Beschreibung der Geschehnisse auf der Rampe versagte Leon Schwarzbaums Stimme kurz, aber er zwang sich, weiterzuerzählen: »Ich stand daneben, als ein siebzehnjähriges Mädchen erschossen wurde. Sie hatte rote Haare. Ich sah, wie der SS-Sturmführer Schwarzhuber auf dem Motorrad vor einem Lastwagen herfuhr, auf dem nackte Menschen zusammengepfercht waren. Sie weinten, sie schrien, sie reckten die Hände zum Himmel. Dantes Inferno. Ich träume noch heute davon. Jeden Tag verfolgen mich die Bilder aus Auschwitz. Die SS war grausam und sadistisch.«
Im Gerichtssaal war es nun totenstill. Mit der Aussage Leon Schwarzbaums hatte sich die Atmosphäre vollständig geändert. Nichts mehr war zu spüren von der kalten juristischen Technokratie. Nur Reinhold Hanning schien von der Leidensgeschichte vollkommen unberührt.
Der Zeuge blickte von seinem Zettel auf und fragte in nachdenklichem Tonfall ohne bestimmtes Ziel: »Warum haben sie das getan? Warum haben sie alle diese Menschen umgebracht? Was war die Motivation? Das möchte ich gerne wissen.« Und direkt an den Angeklagten gewandt, fuhr er fort: »Herr Hanning, wir sind fast gleich alt und bald stehen wir vor dem höchsten Richter. Ich möchte Sie auffordern: Sprechen Sie darüber, was Sie und Ihre Kameraden getan und erlebt haben.«
Der Angeklagte blickte vor sich auf die Tischplatte und schwieg. Keine Regung war seinem Gesicht anzusehen, kein Zucken um die Mundwinkel, nichts, das auch nur ansatzweise so etwas wie Gefühl verraten hätte.
Stattdessen meldete sich sein Verteidiger zu Wort: »Die Verhandlungszeit für meinen Mandanten ist abgelaufen. Laut medizinischem Gutachten sind ihm nur zwei Stunden zuzumuten. Davon müssen die Fahrt zum Gericht und fünfzehn Minuten vor Verhandlungsbeginn abgezogen werden. Folglich sind wir schon fünf Minuten drüber.«
Heller hätte den Mann erwürgen können.
Vor dem Gebäude hielt er nach der jungen Frau Ausschau, die vor der Verhandlung an der Aktion gegen die alte Dame beteiligt gewesen war. Sie befand sich in einer erregten Diskussion mit anderen Prozessbeobachtern und ereiferte sich gerade über die Schlussbemerkung des Verteidigers.
»Das