Die neue (Ab)normalität. Robert Misik

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Die neue (Ab)normalität - Robert Misik

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die Verrücktheit dieser Zeit mehr auf den Punkt als der Begriff der »Risikobegegnung«. Die Begegnung, also die soziale Interaktion schlechthin, das Soziale selbst wird mit dem Begriff des Risikos verbunden, um nicht zu sagen: infiziert.

      Ansteckung – Englisch: »con-tagion« – und Berührung – »to touch« – haben in vielen Sprachen den gleichen Wortstamm.

      Wir erleben einen Kontrollverlust, und das ist für die meisten von uns völlig ungewohnt. Wenn wir das Haus verlassen, spüren wir, dass wir keine Kontrolle über die Gefahr haben, der wir uns aussetzen. Wir bewegen uns vorsichtig, vorausschauend. Fast wie Diebe schleichen wir herum. Stets rechnen wir mit der Gefahr, die die unangenehme Eigenschaft hat, völlig unsichtbar zu sein. Wir haben keine Kontrolle über unsere Gesundheitsrisiken, wir haben noch weniger Kontrolle über unsere künftigen Einkommen. Wir haben noch nicht einmal eine Kontrolle darüber, ob wir künftig unseren Beruf ausüben dürfen. Wir haben eigentlich keine wirkliche Kontrolle darüber, ob und wann und zu welchem Zwecke wir das Haus überhaupt verlassen dürfen. Im Hausarrest individualisiert, haben wir zugleich jede Autonomie eingebüßt.

      Wenn alle miteinander verbunden sind, ist die Autonomie eine Chimäre, das spüren wir plötzlich noch mehr als sonst. In komplexen Gesellschaften sind wir immer alle verbunden, aber noch mehr spüren wir diese Verbindung, wenn es Ansteckungsketten sind, die uns aneinanderbinden. In Zeiten der Ansteckung werden wir noch mehr zu einem Organismus, als wir das ohnehin immer sind. Wir halten uns voneinander fern und versuchen doch solidarisch zu sein. Irgendwie: zusammenhalten, indem wir einander aus dem Weg gehen. »Social Distancing«, dieses eigentümliche Wort der Stunde, ein Oxymoron eigentlich, ist auf dumme Weise falsch. Wir halten »physische Distanz« und versuchen, so gut das geht, sozial zu kuscheln. »Es ist ein seltsames Gefühl des Kontrollverlustes, das ich nicht gewohnt bin, aber ich wehre mich auch nicht dagegen«, schreibt der italienische Autor Paolo Giordano.

      Ein spannendes Gesellschaftsexperiment, das nur den Nachteil hat, dass wir in diesem Versuch die Beobachter und zugleich die Laborratten sind.

      WIRKLICH UNWIRKLICH

      »Dieses kleine Zurückzucken vor jedem anderen: Man kann ja nicht wissen. (…) Minutenlang kein Motorengeräusch, keine Schritte, keine Stimmen (…) Unsere traurige, zähe, normalisierte Katastrophe widerspricht dem vertrauten Bild vom Apokalyptischen. Es ist nicht die Pest und nicht Ebola; es liegen nicht die Toten auf der Straße«, so der Schriftsteller Thomas Stangl über die Wirklichkeit und Unwirklichkeit dieses Desasters, das ohne klaren Beginn und ohne bisher erkennbares Ablaufdatum ist und sich schleichend wie Normalität anfühlt. »Die Gegenwart ist immer der Normalzustand; Vergleiche mit dem Davor werden von einem bestimmten Zeitpunkt an müßig und lächerlich.« Wie wir heute leben, das ist abnormal, aber für’s Erste einmal normal.

      MASKIERT

      Die anderen sind nicht nur mit einem Verdacht umgeben, sondern seltsam anonyme Gestalten, in der U-Bahn, im Supermarkt, im Zug, wo immer man Leuten begegnet, man begegnet keinen Gesichtern, sondern allenfalls noch Augen. Die Fremden sind fremder, wenn sie Mund-Nasen-Schutz tragen. Neutrums, die wir gar nicht mehr wahrnehmen, oder sie sind eine Art Fragezeichen, bei denen wir uns auf Basis weniger Merkmale und Gesichtsausschnitte eine Geschichte dazu denken müssen. Masken entziehen den Blicken die wichtigste Kontaktfläche: das Gesicht des Gegenübers.

      Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich Menschen anstarre.

      Es ist auch eine der Eigenarten dieser Zeit, dass das Tragen der Maske zu einem Politikum geworden ist. Wer die Krankheit ernst nimmt, trägt Maske. Wer sie für »ein kleines Gripperl« hält, trägt keine. An manchen Orten der Welt ist die Maske schon beinahe so etwas wie ein Parteiabzeichen. In New York trägt praktisch jeder Maske, denn wer sie nicht trägt, der hätte sich, jedenfalls bis zum Präsidentenwechsel, als Anhänger von Donald Trump zu erkennen gegeben. Die Maske, so tönten die, die Corona für eine Verschwörung hielten, würde uns unserer Individualität berauben, nicht nur unterwerfe sich aus ihrer Sicht der Maskenträger den Befehlen der Obrigkeit, er lösche auch sein Gesicht aus. Er uniformiere sich gleichsam als einer, der sich der herrschenden Macht unterworfen habe. Es ist keine unwitzige Pointe dieser Geschichte, dass im Lateinischen persona zugleich Maske bedeutete. Auch die antiken Griechen hatten dasselbe Wort für Maske und für Gesicht (prósôpon). Im griechischen Theater war die Maske das Merkmal des dargestellten Charakters, und wenn wir genauer darüber nachdenken, beschleicht uns der Gedanke, dass das mehr sein könnte als eine amüsante linguistische Pointe für Altertumswissenschaftler. Wir alle spielen auch heute Rollen in der Öffentlichkeit, und sei es nur in der alltäglichen Öffentlichkeit unserer engeren Kreise, und diese Rollen sind maskierten Charakteren nicht unähnlich. Persona ist eben gerade, auch heute, nie die unverstellte Individualität, sondern die Rolle, die oberflächlich gegenüber der Außenwelt eingenommen wird. Die dargestellte Individualität ist insofern gerade eine Maske. Viele von uns tragen Masken, damit sie unbehelligt durchs Leben kommen, damit man sie mag, akzeptiert und liebt. Womöglich kommt der Hass auf die Maske gerade daher, dass wir schon länger alle eine Entfremdung verspüren, eine Entfremdung von unserem Ich durch die metaphorischen Masken, die wir in der normalen Normalität tragen. In der neuen Normalität oder der neuen Abnormalität verunmöglichen die FFP1, FFP2 oder andere Masken gerade dieses Rollenspiel, das wir uns angewöhnt haben. Die Rolle, die wir einnehmen, verlangt nach Blicken, Gesten, die Zitate sind, Mimik, die von anderen deutbar ist, nach Interaktionen, kurzum: nach den Künstlichkeiten, die zu unserer zweiten Natur geworden sind. In unserem alltäglichen Rollenspiel sind wir plötzlich behindert. Wir wollen individuell und eigen sein, dafür haben wir uns unsere angewachsenen Masken zurechtgelegt, aber hinter der medizinischen Maske sind wir alle irgendwie gleich.

      Die anderen sind mit einem Verdacht umgeben und wir nähern uns ihnen nur mit Vorsicht, das aber nicht nur aus medizinischen Gründen. Nach den ersten Monaten der Pandemie, als der erste Schreck überwunden und die erste Welle überstanden war, schieden sich die Geister. Die einen hatten genug von alldem und waren versucht, sich durch Verleugnung aggressiv das Thema vom Leib zu halten, andere hatten Angst zu sterben. Und das waren nur die beiden Pole, dazwischen gab es alle Graustufen, die dennoch ausreichten, Freundeskreise zu zerreißen. Man führte plötzlich Gespräche im Vermeidungsmodus und Vorsichts-Alert. Wenn jemand die Corona-Regeln ansprach, stand er im Verdacht, einer dieser durchgeknallten Verschwörungslügner zu sein, und man beobachtete sich dabei, dass man extra behutsam sprach, um die Sache – etwaig – nicht eskalieren zu lassen. Ich stellte an mir fest, dass ich, bevor ich ein Gespräch über Meinungen zum Thema begann, abtastete, was das Gegenüber denn meinen könnte, um gegebenenfalls rechtzeitig das Thema zu wechseln. Dass jeder abdriften kann, ist die ernüchternde Erfahrung dieser Monate. Der Verdacht gegenüber dem anderen ist eine Erscheinungsform der sozialen Distanzierung, des Zerreißen der Kette des Seins während der Pandemie.

      WIR MUSSTEN ALLE IN QUARANTÄNE

      A. war positiv, wir mussten alle in Quarantäne, man gewöhnt sich an alles und jünger werden wir auch nicht. Heinz A., Pensionist.

      Die Versorgung funktioniert, ich geh jeden Tag eine Stunde spazieren, sonst hat sich für uns Pensionisten nicht viel verändert, außer dass wir mehr zu Hause sind, und wir suchen das Positive daran, etwa, dass die Entschleunigung schon lange nötig war. Ich bin auch zuversichtlich, dass nach der Krise eine schöne Zeit kommen wird, weil die Menschen mehr auf das Wesentliche achten werden. Erich S., Pensionist

      Wir können unsere Enkelkinder nur über Video sehen, nicht mit ihnen spielen und sie in die Arme nehmen. Sonst besuchten sie uns jede Woche. Uns geht es sonst gut, ich helfe dem Sohn beim Terrasseanlegen. Das Gasthaus hat geschlossen und im Feuerwehrhaus dürfen wir die Freunde auch nicht treffen. Aber wir werden es überstehen und sind froh, gesund zu sein. Karl K., Tischler.

      STILLE

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