Wilderer. Tom Franklin
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Tom Franklin
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
Inhalt
Jagdzeit
Kies
Shubuta
Triathlon
Blaue Pferde
Die Ballade von Duane Juarez
Ein bisschen was
Dinosaurier
Instinkt
Alaska
Wilderer
Für Beth Ann
und für meine Eltern
Gerald und Betty Franklin
Einleitung
Jagdzeit
Ich stehe auf einer Bockbrücke im Süden von Alabama und schaue hinab in das kaffeebraune Wasser des Blowout, eines Angelplatzes, den ich als Kind geliebt habe. Es ist Ende Dezember, kalt. Ein steifer Wind furcht das Wasser, wirbelt totes Laub auf und biegt die hohen braunen Rohrkolben entlang des Ufers. Weiter hinten im Wald ist es ganz still, Sumpfzypressen und Baumknie, dicke Ranken, ein verlassener Biberbau. Am Himmel schweben Truthahngeier, schwarze Flecken vor den grauen Wolken. Einmal haben mein Bruder Jeff und ich, nur mit Angelruten bewaffnet, auf dieser Brücke den Schrei eines Pumas gehört. Es ist ein Laut, den ich niemals vergessen habe, wie das Gekreisch einer Wahnsinnigen. Danach nahmen wir Gewehre mit, wenn wir angeln gingen. Heute jedoch bin ich unbewaffnet, und die einzigen Geräusche sind das Ächzen und Zischen von Bulldozern und Lastwagen auf einer neu angelegten Holzabfuhrstraße knapp fünfhundert Meter entfernt.
Vor vier Jahren, mit dreißig, bin ich aus dem Süden weggegangen, zu einem weiterführenden Studium in Fayetteville, Arkansas, wo mir unter den dorthin verpflanzten Yankees und Weststaatlern klar wurde, welches Glück ich hatte, hier in diesen Wäldern aufgewachsen zu sein, unter Wilderern und Geschichtenerzählern. Ich weiß natürlich, dass Arkansas für die meisten Leute zum Süden zählt, aber es ist nicht mein Süden. Mein Süden – der mir bis heute im Blut liegt und meine Vorstellungswelt bestimmt, der Süden, in dem diese Geschichten spielen – ist das südliche Alabama, üppig, grün und voller Tod, die waldreichen Countys zwischen dem Alabama und dem Tombigbee River.
Gestern Morgen um fünf bin ich in Fayetteville aufgebrochen und über eintausend Kilometer gefahren, zum neuen Haus meiner Eltern in Mobile, und heute Morgen bin ich früh aufgewacht und noch einmal zwei Stunden gefahren, vorbei an dem Kieswerk und den Chemiefabriken, wo ich mit Mitte zwanzig gearbeitet habe, nach Dickinson, der Gemeinde, in der wir bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr wohnten. Es ist ein winziges Kaff, ein einziger Laden (inzwischen geschlossen), im selben Gebäude ein Postamt, der Friedhof von Kudzu überwuchert, Eisenbahngleise. Ich stehe kurz vor dem Abschluss einer Novelle, die in diesen Wäldern spielt – in der Erzählung wird genau unterhalb der Stelle, wo ich stehe, ein Mann umgebracht –, und ich bin hier, um mich nach Einzelheiten der Landschaft umzusehen, nach Dingen, die ich vielleicht vergessen habe.
Um zum Blowout zu kommen, habe ich mir einen Weg durch sechshundert Meter Kiefernwald gesucht, der noch bis vor zwölf Jahren eines der Maisfelder meiner Familie gewesen ist. Ich erkenne die Gegend kaum wieder. Ich gehe einen knappen Kilometer an der neuen Holzabfuhrstraße entlang, dann steige ich auf das Eisenbahngleis, zu beiden Seiten dichter Wald, hohe Patchwork-Wände aus Gestrüpp und Bäumen, Rote Spottdrosseln hüpfen unsichtbar neben mir her, als gäben sie mir das Tempo vor. Früher gehörte dieses Land meinem Vater, meinen Tanten und Onkeln. Es war unser Land. Kurz vor seinem Tod teilte mein Großvater fast sechshundert Morgen unter seinen fünf Kindern auf. Er erwartete, dass der Besitz in der Familie blieb, aber sie verkauften ihn nach und nach an die Holzwirtschaft oder an Jagdclubs. Heute gehört uns nichts mehr davon.
Ich will gerade wieder gehen, als ich bemerke, dass sich fünfzig Meter weiter etwas Großes zwischen den Bäumen herauslöst. Für einen Moment erlebe ich den jähen Schreck wieder, der mich jedes Mal ergriff, wenn ich ein Stück Wild sah, doch das hier ist nur ein Jäger. Ich sehe, dass er mich erspäht hat, auf das Gleis steigt und mir entgegenkommt. Weil ich achtzehn Jahre lang in dieser Gegend gelebt habe, rechne ich damit, ihn zu kennen, und komme mir einen Moment lang lächerlich vor. Was mache ich hier während der Jagdzeit am Blowout, ohne Gewehr?
Es ist eine vertraute Empfindung, dieses leise Schuldgefühl, denn in meiner Jugend wurde ein Junge, der nicht auf die Jagd ging, als Schlappschwanz abgestempelt. Aus irgendeinem Grund hatte ich nie das Verlangen, etwas zu töten, aber ich war nicht mutig genug, das auch zu sagen. Stattdessen tat ich, was man von mir erwartete: Ging sonntags und mittwochabends zur Kirche, sagte »Ja, Ma’am« und »Nein, Sir« zu meinen Eltern. Und ging auf die Jagd.
Obwohl ich es hasste (und immer noch hasse), früh aufzustehen, kroch ich um vier Uhr morgens aus dem Bett. Obwohl ich die Kälte hasste, suchte ich mir einen Weg durch den eisigen Wald, kletterte auf einen der Hochstände meiner Familie oder ließ mich am Fuß einer dicken Lebenseiche nieder um anzusitzen, was schlicht bedeutet, darauf zu warten, dass ein Bock vorbeikommt, damit man ihn schießen kann. Und weil ich aus den falschen Gründen auf die Jagd ging und weil ich mir Sorgen machte, dass mein Vater, mein Bruder und meine Onkel meinen Schwindel vielleicht durchschauten, wurde ich der eifrigste Jäger von uns allen.
Ich war derjenige, der morgens als Erster aufwachte und Jeff wachrüttelte. Der Erste im Pick-up. Der Erste auf dem Gleis, wo wir den felsigen Hügel hinaufstiegen und in Richtung des Blowout schlichen, der Stelle, wo wir uns trennten. An solchen Morgen, an denen die Sterne noch am Himmel standen, war es zu dunkel, als dass wir unseren Atem hätten sehen können, die Schwellen knarrten unter unseren Stiefeln, und ich ging am leisesten, hielt meine doppelläufige Flinte vom Kaliber 16 quer vor der Brust, den bloßen Daumen an der Sicherung, den linken Zeigefinger am vorderen der beiden Abzüge. Beim Blowout angekommen, ging ich wortlos nach links und Jeff nach rechts. In der Morgenstille, die jedes Geräusch verstärkte, schlich ich über das lose Gestein abwärts und trat unten leise über die gefrorenen Pfützen und zwischen die dunklen Bäume.
Im Wald verschwanden die Sterne oben wie weggewischt, und ich schob mich vorwärts, die Hand vor dem Gesicht, um es gegen Dornen zu schützen, mit vor Kälte tränenden Augen. Wenn ich weit genug gekommen war, suchte ich mir einen Baum, unter dem ich sitzen konnte, dachte zitternd und unglücklich an die Geschichten, die ich schreiben wollte, und hoffte auf etwas, worauf ich schießen konnte. Denn mit sechzehn hatte ich noch immer kein Stück Rotwild erlegt, und das hieß, ich war streng genommen noch immer ein Schlappschwanz.
Natürlich gab es in meiner Familie viele echte Jäger, darunter auch mein Vater. Obwohl Gerald Franklin nicht mehr jagte, nötigte er auch dem erfahrensten Waidmann Respekt ab, weil er als junger Mann ein legendärer Truthahntöter gewesen war (und wir wissen alle, dass Truthahnjäger sich für die einzigen ernsthaften Jäger halten und Rotwild- oder sonstige Jäger auf ganz ähnliche Weise geringschätzen, wie Fliegenfischer auf andere Angler herabsehen.) Dad prahlte nie mit den Truthähnen, die er geschossen hatte, aber wir erfuhren alles von unseren Onkeln. Laut ihnen war mein Vater der Wildeste von uns allen gewesen, war früher aufgestanden und länger im Wald geblieben als jeder andere im County.
Eine Geschichte, die er erzählt, handelt davon, wie er eines Sonntags im Frühjahr aufwachte, um jagen zu gehen – er benutzte nie eine Uhr, sondern verließ sich stattdessen auf seinen »eingebauten« Wecker. Voller Begeisterung, weil er wusste, auf welchem Baum sich am Vorabend ein Truthahn