Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra
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Und hatte sie sich nicht genau das gewünscht, als sie in dieser Firma anfing? Hatte sie die Stelle als »Referentin für internationale Personal- und Organisationsentwicklung« in dem global tätigen Pharmaunternehmen nicht genau deshalb angetreten, weil sie sich davon versprach, ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihr Können einzubringen, mit Kollegen in aller Herren Ländern zusammenzuarbeiten und perspektivisch eine Führungsposition zu übernehmen? Es lief gerade wie geschmiert, das Feedback vom Chef bestätigte das einmal mehr.
Weshalb packte die Frau an diesem Freitagnachmittag bei strahlendem Sonnenschein und frühlingshaften Temperaturen nicht freudig ihre Sachen, holte den Sekt aus dem Kühlschrank und stieß mit Freunden auf ihren Erfolg an? Stattdessen verließ sie das Werksgelände in Richtung der nahen Rheininsel, um die letzten vier Monate Revue passieren zu lassen.
Was hatte sie gemacht in dieser Zeit? Sie war schnell mittendrin, arbeitete zusammen mit einem Kollegen an einer internationalen Gehaltsstudie. Außerdem konzipierte sie mit einem Team ein Performance-Management-System und entwickelte gemeinsam mit einem externen Partner ein Trainingsprogramm für Fach- und Führungskräfte, die für längere Zeit außerhalb ihrer Heimatländer tätig werden. Schnell folgten Programme für international zusammengesetzte Teams. An den Trainings hatte sie am meisten Spaß, die Vergütungsthemen brachten ihre Augen weniger zum Leuchten, doch irgendwie lag ihr auch das Rechnen und Analysieren. Die Tätigkeiten als solche verhinderten also nicht die Feierlaune. Was dann?
Das sollte die junge Frau erst viel später wirklich herausfinden.
Unmündige Kinder
Hamburg, ziemlich genau zehn Jahre später. Die Buchhandlung im Hauptbahnhof. Eine Enddreißigerin blättert in einem Buch, sie hat noch etwas Zeit, bis ihr Zug abfährt. Die Frau arbeitet als Beraterin, sie ist auf dem Weg zum Kunden. Ein Team in einer großen Versicherung wünscht sich Unterstützung bei der Arbeit an einem wichtigen Projekt. Es läuft nicht so richtig rund im Projekt, ein Teammitglied hält immer wieder den Laden auf, die anderen sind genervt. Und das, wo doch in zwei Wochen die nächste Lenkungskreissitzung ansteht. Die Frau denkt an ihr letztes Gespräch mit der Projektleiterin zurück. Eine wirklich patente, erfahrene Frau, die das Projekt wahrlich lehrbuchmäßig organisiert hatte: saubere Auftragsklärung mit dem Auftraggeber, kompetente Leute im Projektteam und Zielvereinbarungen mit jedem Einzelnen. Sogar eine Kick-off-Veranstaltung in einem schönen Hotel im Münsterland hatte es gegeben, dort wurde das Projekt nach allen Regeln der Kunst geplant und Raum für Teamentwicklung gab es auch.
»Meine Damen und Herren, auf Gleis 14 fährt ein der ICE 70 nach Stuttgart, bitte Vorsicht bei der Einfahrt!« Die Durchsage reißt die Beraterin aus ihren Gedanken. Schnell klappt sie das Buch zu, in dem sie nun nur wenige Zeilen gelesen hat, zahlt und eilt zum Bahnsteig.
Der Titel des Buches? »Bessere Ergebnisse durch selbstbestimmtes Arbeiten« – obwohl der Titel auf Deutsch nicht so vielversprechend klang wie im amerikanischen Original (»Why work sucks and how to fix it«) hatte die Frau das Buch gekauft, ohne groß nachzudenken. Irgendwas hatte sie an dem Buch fasziniert. Statt ihre Vorbereitungen für den anstehenden Workshop noch einmal durchzugehen, fing sie im Zug gleich an zu lesen. Die Autorinnen, Cali Ressler und Jody Thompson, legten direkt los: »Wir gehen zur Arbeit und geben unser Bestes. Dabei werden wir behandelt wie unmündige Kinder, die Bonbons stibitzen, wenn man ihnen nicht auf die Finger schaut.« Und ein paar Zeilen weiter: »Wir gehen im Informationszeitalter zur Arbeit, doch unser Arbeitsumfeld hat sich seit der Industrialisierung kaum verändert. Das wirklich Tragische daran ist aber, dass wir das mitmachen.«
Was soll das?
Da war es, das erste Puzzlestück, das mir erklärte, weshalb ich mich an jenem 30. April zehn Jahre zuvor nicht so richtig hatte freuen können. Viele weitere sollten folgen und nach und nach ein Bild ergeben. Davon wird in diesem Buch an einigen Stellen noch die Rede sein.
Doch der Reihe nach: Obwohl ich nach meiner Zeit in der Pharmaindustrie längst in einem kleinen Beratungsunternehmen arbeitete und bei dem, was ich dort tat, meine Augen viel häufiger leuchteten, blieb ein unbestimmtes Gefühl in der Magengegend. Irgendetwas stimmte nicht. Ich fühlte mich in meiner Lebendigkeit eingeschränkt, als sei ich von unsichtbaren Seilen gefesselt, die ich bis dahin nur schwer identifizieren konnte. Und ich dachte lange, ich sei es, mit der etwas nicht stimmt. Alle anderen schienen ganz normal zu finden, was um sie herum in den Unternehmen passierte. Sie handelten Budgets aus, schrieben Berichte, bereiteten Zahlen für das Controlling auf, vereinbarten Ziele und strichen Boni ein – und mein Bauch funkte SOS. Also musste doch mit mir etwas nicht stimmen, ich passte wohl einfach nicht in diese Welt.
Das zufällig am Bahnhof erworbene Buch bot mir einen anderen Blick an: Es könnte auch sein, dass mit der Arbeit und dem, wie wir sie erledigen, etwas falsch ist. Wir messen zum Beispiel mit Arbeit verbrachte Zeit und interessieren uns weniger dafür, was bei der Arbeit rauskommt. Wie oft hatte ich schiefe Blicke meiner Kollegen geerntet, wenn ich gegen 9 Uhr ins Büro kam. Die meisten waren schon seit 7 Uhr da, in einem produzierenden Betrieb nicht unüblich, aber so gar nicht mein Rhythmus. Ich kam eher abends in Fahrt und wurde – wenn ich, was ab und zu vorkam, nach 19 Uhr noch im Büro war – entweder von wohlmeinenden Führungskräften oder einem Betriebsrat freundlich gebeten, doch nun Feierabend zu machen. Die Zeiterfassung wurde übrigens auch zu diesem Zeitpunkt abgestellt. Ich wollte aber lieber meinen Gedanken zu Ende bringen und die Vorbereitung für einen Workshop mit einem internationalen Team abschließen.
An diese Episoden fühlte ich mich sehr erinnert, als vor ein paar Jahren die Entscheidung eines DAX-Unternehmens durch die Presse ging, täglich um 19 Uhr die Mailserver abzustellen, um die Mitarbeiter davor zu schützen, abends noch zu arbeiten. Ein Vorgehen, das inzwischen einige Nachahmer gefunden hat. Doch das ist Fremdbestimmung pur – und die ist sicher ein Knoten in den Fesseln der Lebendigkeit.
Doch nicht nur bei der Frage, wann gearbeitet wird, auch beim Wo gibt es in unseren Unternehmen unglaublich viel Fremdbestimmung. »Homeoffice gibt es bei mir nicht, da sitzen die Mitarbeiter ja nur rum und ich muss es bezahlen«, sagte einmal nach einem Vortrag ein Unternehmer zu mir. Ich war erst mal baff und schaute den hanseatischen Kaufmann fragend an. Spinnt der? Galt nicht gerade unter den Hanseaten der Handschlag als Ausdruck des Vertrauens, das man Geschäftspartnern entgegenbrachte? Weshalb nicht den Mitarbeitern? Warum unterstellte der Unternehmer den Menschen, die er selbst als seine Mitarbeiter ausgewählt hatte, sie würden nicht arbeiten, wenn er sie nicht kontrolliert? Was sollte das? Ein Gespräch kam an dem Abend nicht mehr zustande, zu weit waren unsere Positionen auseinander.
Fremdbestimmung ist ein Knoten in den Fesseln der Lebendigkeit.
Auf dem Heimweg dachte ich über diese Begegnung noch einmal nach. War mir nicht gerade etwas wiederbegegnet, was mir in den letzten zehn Jahren immer klarer geworden war und mich bis heute beschäftigt: Wir haben uns in unseren Organisationen einen Haufen Prozesse und Praktiken eingehandelt, die unsere Arbeit eher behindern als unterstützen. Arbeitszeit- und Anwesenheitskontrolle gehören definitiv dazu. Ich stelle die gute Absicht hinter diesen Praktiken keinesfalls infrage und möchte nicht in die Zeit zurück, in der Arbeiter weitgehend rechtelos sechzehn Stunden am Tag geschuftet haben – und es heute leider immer noch tun, in anderen Teilen der Welt und auch direkt vor unserer Haustür.
Und doch: Der Schutz der Mitarbeiter ist nur eine Seite der Medaille. Die andere ist Kontrolle, und zwar in einem Ausmaß, das an manchen Stellen nicht mehr feierlich ist. Da schreiben Rechtsanwälte Kolumnen in Tageszeitungen, in denen es darum geht, ob Mitarbeiter ausstempeln