Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Stefan Zweig

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Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers - Stefan Zweig Reclam Taschenbuch

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paar Prozent an Steuern abzuknappen und anderseits die Staats- und Industriewerte hohe Verzinsung brachten, für den Vermögenden das Immer-reicher-werden eigentlich nur eine passive Leistung. Und sie lohnte sich; noch wurde nicht wie in den Zeiten der Inflation der Sparsame bestohlen, der Solide geprellt, und gerade die Geduldigsten, die Nichtspekulanten hatten den besten Gewinn. Dank dieser Anpassung an das allgemeine System seiner Zeit konnte mein Vater schon in seinem fünfzigsten Jahre auch nach internationalen Begriffen als sehr vermögender Mann gelten. Aber nur sehr zögernd folgte die Lebenshaltung unserer Familie dem immer rascheren Anstieg des Vermögens nach. Man legte sich allmählich kleine Bequemlichkeiten zu, wir übersiedelten aus einer kleineren Wohnung in eine größere, man hielt sich im Frühjahr für die Nachmittage einen Mietswagen, reiste zweiter Klasse mit Schlafwagen, aber erst in seinem fünfzigsten Jahr gönnte sich mein Vater zum erstenmal den Luxus, mit meiner Mutter für einen Monat im Winter nach Nizza zu fahren. Im ganzen blieb die Grundhaltung, Reichtum zu genießen, indem man ihn hatte und nicht indem man ihn zeigte, völlig unverändert; noch als Millionär hat mein Vater nie eine Importe geraucht, sondern – wie Kaiser Franz Joseph seine billige Virginia – die einfache ärarische Trabuco, und wenn er Karten spielte, geschah es immer nur um kleine Einsätze. Unbeugsam hielt er an seiner Zurückhaltung, seinem behaglichen aber diskreten Leben fest. Obwohl ungleich repräsentabler und gebildeter als die meisten seiner Kollegen – er spielte ausgezeichnet Klavier, schrieb klar und gut, sprach französisch und englisch –, hat er beharrlich sich jeder Ehre und jedem Ehrenamt verweigert, zeitlebens keinen Titel, keine Würde angestrebt oder angenommen, wie sie ihm oft in seiner Stellung als Großindustrieller angeboten wurde. Niemals jemanden um etwas gebeten zu haben, niemals zu »bitte« oder »danke« verpflichtet gewesen zu sein, dieser geheime Stolz bedeutete ihm mehr als jede Äußerlichkeit.

      Nun kommt im Leben eines jedweden unverweigerlich die Zeit, da er im Bilde seines Wesens dem eigenen Vater wiederbegegnet. Jener Wesenszug zum Privaten, zum Anonymen der Lebenshaltung beginnt sich in mir jetzt von Jahr zu Jahr stärker zu entwickeln, sosehr er eigentlich im Widerspruch steht zu meinem Beruf, der Name und Person gewissermaßen zwanghaft publik macht. Aber aus dem gleichen geheimen Stolz habe ich seit je jede Form äußerer Ehrung abgelehnt, keinen Orden, keinen Titel, keine Präsidentschaft in irgend einem Vereine angenommen, nie einer Akademie, einem Vorstand, einer Jury angehört; selbst an einer festlichen Tafel zu sitzen ist mir eine Qual, und schon der Gedanke, jemanden um etwas anzusprechen, trocknet mir – selbst wenn meine Bitte einem Dritten gelten soll – die Lippe ein schon vor dem ersten Wort. Ich weiß, wie unzeitgemäß derlei Hemmungen sind in einer Welt, wo man nur frei bleiben kann durch List und Flucht, und wo, wie Vater Goethe weise sagte, »Orden und Titel manchen Puff abhalten im Gedränge«. Aber es ist mein Vater in mir und sein heimlicher Stolz, der mich zurückzwingt, und ich darf ihm nicht Widerstand leisten; denn ihm danke ich, was ich vielleicht als meinen einzig sicheren Besitz empfinde: das Gefühl der inneren Freiheit.

      *

      Meine Mutter, die mit ihrem Mädchennamen Brettauer hieß, war von einer anderen, einer internationaleren Herkunft. Sie war in Ancona, im südlichen Italien geboren und Italienisch ebenso ihre Kindheitssprache wie Deutsch; immer wenn sie mit meiner Großmutter oder ihrer Schwester etwas besprach, was die Dienstboten nicht verstehen sollten, schaltete sie auf Italienisch um. Risotto und die damals noch seltenen Artischocken sowie die andern Besonderheiten der südlichen Küche waren mir schon von frühester Jugend an vertraut, und wann immer ich später nach Italien kam, fühlte ich mich von der ersten Stunde zuhause. Aber die Familie meiner Mutter war keineswegs italienisch, sondern bewusst international; die Brettauers, die ursprünglich ein Bankgeschäft besaßen, hatten sich – nach dem Vorbild der großen jüdischen Bankiersfamilien, aber natürlich in viel winzigeren Dimensionen – von Hohenems, einem kleinen Ort an der Schweizer Grenze, frühzeitig über die Welt verteilt. Die einen gingen nach St. Gallen, die andern nach Wien und Paris, mein Großvater nach Italien, ein Onkel nach New York, und dieser internationale Kontakt verlieh ihnen besseren Schliff, größeren Ausblick und dazu einen gewissen Familienhochmut. Es gab in dieser Familie keine kleinen Kaufleute, keine Makler mehr, sondern nur Bankiers, Direktoren, Professoren, Advokaten und Ärzte, jeder sprach mehrere Sprachen, und ich erinnere mich, mit welcher Selbstverständlichkeit man bei meiner Tante in Paris bei Tisch von der einen zur andern hinüberwechselte. Es war eine Familie, die sorgsam »auf sich hielt«, und wenn ein junges Mädchen aus der ärmeren Verwandtschaft heiratsreif wurde, steuerte die ganze Familie eine stattliche Mitgift zusammen, nur um zu verhindern, dass sie »nach unten« heirate. Mein Vater wurde als Großindustrieller zwar respektiert, aber meine Mutter, obwohl in der glücklichsten Ehe ihm verbunden, hätte nie geduldet, dass sich seine Verwandten mit den ihren auf eine Linie gestellt hätten. Dieser Stolz, aus einer »guten« Familie zu stammen, war bei allen Brettauers unausrottbar, und wenn in späteren Jahren einer von ihnen mir sein besonderes Wohlwollen bezeugen wollte, äußerte er herablassend: »Du bist doch eigentlich ein rechter Brettauer«, als ob er damit anerkennend sagen wollte: »Du bist doch auf die rechte Seite gefallen«.

      Diese Art Adel, den sich manche jüdische Familien aus eigener Machtvollkommenheit zulegten, hat mich und meinen Bruder schon als Kinder bald amüsiert und bald verärgert. Immer bekamen wir zu hören, dass dies »feine« Leute seien und jene »unfeine«, bei jedem Freunde wurde nachgeforscht, ob er aus »guter« Familie sei und bis ins letzte Glied Herkunft sowohl der Verwandtschaft als des Vermögens überprüft. Dieses ständige Klassifizieren, das eigentlich den Hauptgegenstand jedes familiären und gesellschaftlichen Gesprächs bildete, schien uns damals höchst lächerlich und snobistisch, weil es sich doch schließlich bei allen jüdischen Familien nur um einen Unterschied von fünfzig oder hundert Jahren dreht, um die sie früher oder später aus demselben jüdischen Ghetto gekommen sind. Erst viel später ist mir klar geworden, dass dieser Begriff der »guten« Familie, der uns Knaben als eine parodistische Farce einer künstlichen Pseudoaristokratie erschien, eine der innersten und geheimnisvollsten Tendenzen des jüdischen Wesens ausdrückt. Im Allgemeinen wird angenommen, reich zu werden sei das eigentliche und typische Lebensziel des jüdischen Menschen. Nichts ist falscher. Reich zu werden bedeutet für ihn nur eine Zwischenstufe, ein Mittel zum wahren Zweck und keineswegs das innere Ziel. Der eigentliche Wille des Juden, sein immanentes Ideal ist der Aufstieg ins Geistige, in eine höhere kulturelle Schicht. Schon im östlichen orthodoxen Judentum, wo sich die Schwächen ebenso wie die Vorzüge der ganzen Rasse intensiver abzeichnen, findet diese Suprematie des Willens zum Geistigen über das bloß Materielle plastischen Ausdruck: der Fromme, der Bibelgelehrte gilt tausendmal mehr innerhalb der Gemeinde als der Reiche; selbst der Vermögendste wird seine Tochter lieber einem bettelarmen Geistmenschen zur Gattin geben als einem Kaufmann. Diese Überordnung des Geistigen geht bei den Juden einheitlich durch alle Stände; auch der ärmste Hausierer, der seinen Packen durch Wind und Wetter schleppt, wird versuchen, wenigstens einen Sohn unter den schwersten Opfern studieren zu lassen, und es wird als Ehrentitel für die ganze Familie betrachtet, jemanden in ihrer Mitte zu haben, der sichtbar im Geistigen gilt, einen Professor, einen Gelehrten, einen Musiker, als ob er durch seine Leistung sie alle adelte. Unbewusst sucht etwas in dem jüdischen Menschen dem moralisch Dubiosen, dem Widrigen, Kleinlichen und Ungeistigen, das allem Handel, allem bloß Geschäftlichen anhaftet, zu entrinnen und sich in die reinere, die geldlose Sphäre des Geistigen zu erheben, als wollte er – wagnerisch gesprochen – sich und seine ganze Rasse vom Fluch des Geldes erlösen. Darum ist auch fast immer im Judentum der Drang nach Reichtum in zwei, höchstens drei Generationen innerhalb einer Familie erschöpft, und gerade die mächtigsten Dynastien finden ihre Söhne unwillig, die Banken, die Fabriken, die ausgebauten und warmen Geschäfte ihrer Väter zu übernehmen. Es ist kein Zufall, dass ein Lord Rothschild Ornithologe, ein Warburg Kunsthistoriker, ein Cassirer Philosoph, ein Sassoon Dichter wurde; sie alle gehorchten dem gleichen unbewussten Trieb, sich von dem freizumachen, was das Judentum eng gemacht, vom bloßen kalten Geldverdienen, und vielleicht drückt sich darin sogar die geheime Sehnsucht aus, durch Flucht ins Geistige sich aus dem bloß Jüdischen ins allgemein Menschliche aufzulösen. Eine »gute« Familie meint also mehr als das bloß Gesellschaftliche, das sie selbst mit dieser Bezeichnung sich zubilligt; sie meint ein Judentum, das sich von allen Defekten und Engheiten und Kleinlichkeiten, die das Ghetto ihm aufgezwungen, durch Anpassung an eine andere Kultur und womöglich eine universale Kultur befreit hat oder

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