Ausgewählte philosophische Werke von Moses Mendelssohn. Moses Mendelssohn
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Etwas deutlicher, mein lieber Sokrates! – Ausdehnung und Bewegung sind Vorstellungen des denkenden Wesens von dem, was außer ihm Wirklich ist: Nicht? – Zugegeben! – Wir mögen die zuverläßigsten Gründe haben, versichert zu seyn, daß die Dinge außer uns nicht anders sind, als sie uns ohne Hinderniß erscheinen: gehet nicht aber diesem ohngeachtet allezeit die Vorstellung selbst voran, und die Versicherung, daß ihr Gegenstand wirklich ist, folget nachher? – Wie ist es anders möglich, versetzte Simmias, da wir vom Daseyn der Dinge außer uns nicht anders, als durch ihre Eindrücke benachrichtiget werden können? – In der Reihe unserer Erkenntniß gehet also allezeit das denkende Wesen voran, und das ausgedehnte Wesen folget; wir erfahren zuerst, daß Begriffe, und folglich ein begreifendes Wesen, wirklich seyn, und von ihnen schließen wir auf das wirkliche Daseyn des Körpers und seine Eigenschaften. Wir können uns von dieser Wahrheit auch dadurch überzeugen, weil der Körper, wie wir vorhin gesehen, ohne Verrichtung des denkenden Wesens kein Ganzes ausmachen, und die Bewegung selbst, ohne Zusammenhalten des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen, keine Bewegung seyn würde. Wir mögen die Sache also betrachten von welcher Seite wir wollen, so stößt uns allezeit die Seele mit ihren Verrichtungen zuerst auf, und sodann folget der Körper mit seinen Veränderungen. Das Begreifende gehet allezeit vor dem bloß Begreiflichen her. – Dieser Begriff scheinet fruchtbar, meine Freunde, sprach Cebes. – Wir können die ganze Kette von Wesen, fuhr Sokrates fort, vom Unendlichen an, bis auf das kleinste Stäublein in drey Glieder eintheilen. Das erste Glied begreift, kann aber von andern nicht begriffen werden: dieses ist der einzige, dessen Vollkommenheit alle endlichen Begriffe übersteigt. Die erschaffenen Geister und Seelen machen das zweyte Glied: Diese begreifen und können von andern begriffen werden. Die Körperwelt ist das letzte Glied, die nur von andern begriffen werden, aber nicht begreifen kann. Die Gegenstände dieses letzten Gliedes sind, so wohl in der Reihe unserer Erkenntniß, als im Daseyn selbst, außer uns, allezeit die hintersten in der Ordnung, indem sie allezeit die Wirklichkeit eines begreifenden Wesens voraussetzen: wollen wir dieses einräumen? – Wir können nicht anders, sprach Simmias, nachdem das vorige alles hat zugegeben werden müssen. – Und gleichwohl, fuhr Sokrates fort, nimmt die Meynung der Menschen mehrentheils den Rückweg von dieser Ordnung. Das erste, davon wir versichert zu seyn glauben, ist der Körper und seine Veränderungen; diese bemeistern sich so sehr aller unserer Sinne, daß wir eine Zeit lang das materielle Daseyn für das einzige, und alles übrige für Eigenschaften desselben halten. – Mich freuet es, sprach Simmias, daß du selbst, wie du nicht undeutlich zu verstehen giebst, diesen verkehrten Weg gegangen bist. – Allerdings, mein Lieber! versetzte Sokrates. Die ersten Meynungen aller Sterblichen sind sich einander ähnlich. Dieses ist die Rhede, von welcher sie insgesamt ihre Fahrt antreten. Sie irren, die Wahrheit suchend, auf den Meeren der Meynungen auf und nieder, bis ihnen Vernunft und Nachdenken, die Kinder Jupiters, in die Segel leuchten, und eine glückliche Anlandung verkündigen. Vernunft und Nachdenken führen unsern Geist von den sinnlichen Eindrücken der Körperwelt zurück in seine Heimat, in das Reich der denkenden Wesen, vorerst zu seines Gleichen, zu erschaffenen Wesen, die, ihrer Endlichkeit halber, auch von andern gedacht und deutlich begriffen werden können. Von diesen erheben sie ihn zu jener Urquelle des Denkenden und Gedenkbaren, zu jenem alles begreifenden, aber allen unbegreiflichen Wesen, von dem wir, zu unserm Troste, so viel wissen, daß alles, was in der Körperwelt und in der Geisterwelt gut, schön und vollkommen ist, von ihm seine Wirklichkeit hat, und durch seine Allmacht erhalten wird. Mehr braucht es nicht zu unserer Beruhigung, zu unserer Glückseligkeit in diesem und in jenem Leben, als von dieser Wahrheit überzeugt, gerührt, und in dem Innersten unsers Herzens ganz durchdrungen zu seyn.
Ende des zweyten Gesprächs.
Drittes Gespräch
Nach einigem Stillschweigen wendete sich Sokrates zum Cebes und sprach: Mein lieber Cebes! seitdem du von dem Wesen der Unsterblichen richtigere Begriffe erlangt hast, was dünkt dich von den Fabellehrern, die öfters einen Gott auf die Verdienste eines Sterblichen neidisch, und wider denselben bloß aus Mißgunst feindlich gesinnt seyn lassen? – Du weißt es, Sokrates, was wir von dergleichen Lehrern und ihren Erdichtungen zu halten gelernt haben. – Haß und Neid, diese niederträchtigen Leidenschaften, die die menschliche Natur so sehr entehren, müssen der göttlichen Heiligkeit schnurstracks widersprechen. – Ich bin hievon überzeugt. – Du glaubst also nunmehr zuverläßig, und ohne die geringste Bedenklichkeit, daß du, wir, und alle unsere Nebenmenschen von jenem allerheiligsten Wesen, das uns hervorgebracht, nicht beneidet, nicht gehaßt, nicht verfolgt, sondern auf das zärtlichste geliebt werden? – Richtig! – In dieser festen Ueberzeugung kann dir niemals die mindeste Furcht anwandeln, daß der Allerhöchste dich zur ewigen Qual berufen, und, schuldig oder unschuldig, unaufhörlich würde elend seyn lassen? – Niemals, niemals! rief Apollodorus, an den die Frage doch gar nicht gerichtet gewesen, und Cebes begnügte sich einzustimmen. – Wir wollen diesen Satz, fuhr Sokrates fort, daß uns Gott nicht zum ewigen Elende bestimmt, zum Maßstabe für die Gewißheit unserer Erkenntniß annehmen, so oft von zukünftigen Dingen die Rede ist, die einzig und allein von dem Willen des Allerhöchsten abhängen. Aus der Natur und den Eigenschaften erschaffener Dinge läßt sich in diesem Falle nichts mit Gewißheit schließen: denn aus diesen folgen nur diejenigen Sätze, die an und für sich unveränderlich sind, und also von der Erkenntniß des Allerhöchsten, nicht von seinem Gutfinden, abhängen. Zu den göttlichen Vollkommenheiten müssen wir uns in dergleichen Untersuchungen wenden, und zu erforschen suchen, was mit denselben übereinstimmt, und was ihnen widerspricht. Wovon wir überzeugt sind, daß es denselben nicht gemäß sey, das können wir verwerfen, und für so unmöglich halten, als wenn es mit der Natur und dem Wesen des untersuchten Dinges selbst stritte. Eine ähnliche Frage ist die, mein Cebes! die wir auf Veranlassung deines Einwurfs nunmehr zu untersuchen haben. Du räumest es ein, mein Freund, daß die Seele ein einfaches Wesen sey, das ohne den Körper, seine eigne Bestandheit hat: Nicht? – Richtig! – Du giebst ferner zu, daß sie unvergänglich sey? – Hievon bin ich überzeugt. – So weit, fuhr Sokrates fort, haben uns unsere Begriffe von der Natur der Ausdehnung und der Vorstellung geführet. Aber nunmehro entstehen Zweifel über das zukünftige Schicksal des menschlichen Geistes, das in so weit einzig und allein von dem Willen und von dem Gutfinden des Allerhöchsten abhängt. Wird er den Geist des Menschen in einem wachenden Zustande, des Gegenwärtigen und des Vergangenen wohl bewußt, in Ewigkeit fortdauren lassen? oder hat er denselben bestimmt, mit dem Hintritt seines Körpers in einen dem Schlaf ähnlichen Zustand zu versinken, und niemals zu erwachen? War es dieses nicht, was dir noch ungewiß schien? – Eben dieses, mein Sokrates. – Daß eine gänzliche Beraubung alles Bewußtseyns, aller Besinnung, wenigstens auf eine kurze Zeit, nicht unmöglich sey, lehret Schlaf, Ohnmacht, Schwindel, Entzücken, und tausend andere Erfahrungen. Zwar ist die Seele, in allen diesen Fällen, noch an ihren Körper gefesselt, und muß sich nach der Beschaffenheit des Gehirns richten, das ihr in allen diesen Schwachheiten nichts als unmerkliche, leicht verlöschliche Zöge darbeut. Hiervon ist kein Schluß auf den Zustand unserer Seele, nach ihrer Scheidung von dem Körper, zu ziehen; weil alsdann die Gemeinschaft zwischen diesen verschiedenen Wesen aufgehoben wird, der Körper aufhört das Werkzeug der Seele zu seyn, und die Seele ganz andern Gesetzen folgen muß, als die ihr hienieden vorgeschrieben sind. Indessen ist es genug für unsere Ungewißheit, daß ein völliger Mangel des Bewußtseyns der Natur eines Geistes nicht widerspricht; denn wenn dieses ist, so scheinet unsere Furcht nicht ganz ungegründet. – Aber wenn wir von diesem fürchterlichen Zweifel befreyet zu seyn wünschen, können wir etwas mehr verlangen, als die Vergewisserung, daß unsere Besorgniß den Absichten Gottes zuwider laufe, und von demselben ebenso wenig, als das ewige Elend seiner Geschöpfe,