zu entführen; und daß es nunmehr nur auf ihn ankäme, ob er einem schimpflichen Tode entkommen wollte. Er suchte ihn auch durch die wichtigsten Vorstellungen zu überführen, daß dieses seine Pflicht und Schuldigkeit sey. Da er seine Liebe für sein Vaterland kannte: so stellte er ihm vor, wie er verbunden wäre zu verhüten, daß die Athenienser nicht unschuldiges Blut vergössen; er führte überdem an, daß ers um seiner Freunde willen thun müßte, die, außer dem Schmerz über seinen Verlust, auch der schmählichen Nachrede würden ausgesetzt bleiben, daß sie seine Befreyung vernachläßiget. Endlich unterließ er auch nicht, ihm ein bewegliches Bild von dem Unglück seiner hilflosen Kinder vorzuhalten, die alsdann seines väterlichen Unterrichts, Beyspiels und Schutzes beraubt seyn würden. Hierauf antwortete Sokrates. »Mein lieber Krito! deine freundschaftliche Vorsorge ist löblich, und daher mit Dank anzunehmen, wenn sie sich mit der gesunden Vernunft verträgt. Ist sie aber derselben zuwider, so haben wir uns um so viel mehr dafür zu hüten. Wir sollten daher erst in Ueberlegung nehmen, ob dein Vorschlag gerecht und mit der Vernunft übereinstimmig sey, oder nicht. Ich habe mich allzeit gewöhnt, mich zu nichts bereden zu lassen, als was ich, nach reiflicher Ueberlegung, für das Beste gehalten, und ich sehe keinen Grund, warum ich von meinen bisherigen Lebensregeln anjetzo abwiche, ob ich gleich in der Verfassung bin, in welcher du mich siehest: sie erscheinen mir noch immer in eben dem Lichte, und daher kann ich nicht anders, als sie immer noch werth schätzen und verehren.« Nachdem er seine falschen Bewegungsgründe widerlegt, und ihm gezeigt, was ein vernünftiger Mann den Gesetzen und dem Vaterlande schuldig sey, fährt er fort: »Wenn ich jetzt im Begriffe wäre, davon zu laufen, und die Republik samt ihren Gesetzen erschienen, um mich zu fragen: Sprich, Sokrates! was bist du Willens zu thun? Bedenkst du nicht, daß dieses uns, den Gesetzen und dem gesamten Staate, so viel an dir liegt, den Untergang bereiten heißt! Oder glaubest du, daß ein Staat Bestand habe, und nicht nothwendig zerrüttet werden müsse, in welchem die Gerichtsurtheile keine Kraft haben, und von jeder Privatperson vereitelt werden können? Was kann ich hierauf antworten, mein Werther? – Etwa, daß mir Unrecht geschehen, und ich das Urtheil nicht verdiene, das wider mich gesprochen worden? Soll ich dieses antworten? – Krit. Beym Jupiter! ja, o Sokrates! – Sokr. Wenn aber die Gesetze erwiederten: Wie Sokrates, hast du dich gegen uns nicht anheischig gemacht, alle Rechtssprüche der Republik zu genehmigen? – Ich würde über diesen Antrag stutzen; allein sie würden fortfahren: Laß dich dieses nicht befremden, Sokrates! sondern antworte nur; du bist ja sonst ein Freund von Fragen und Antworten; sag an, was mißfällt dir an uns und an der Republik, daß du uns zu Grunde richten willst? Mißfallen dir etwa die Gesetze der Ehe, durch welche dein Vater deine Mutter geheyrathet, und dich zur Welt gebracht; mißfallen dir diese? – Keinesweges! würde ich antworten. So mißbilligest du etwa unsre Weise die Kinder zu erziehen und zu unterrichten? Ist die Einrichtung nicht löblich, die wir zu diesem Behufe gemacht, und die deinen Vater veranlaßt hat, dich in der Musik und Gymnastik unterrichten zu lassen? – Sehr löblich! müßte ich antworten. – Du gestehest also, daß du uns deine Geburt, deine Auferziehung und deine Unterweisung zu verdanken hast, und folglich können wir dich so wohl, als jeden von deinen Vorfahren, als unsern Sohn und Untergebenen betrachten. Ist dem aber also, so fragen wir: kömmt dir mit uns ein gleiches Recht zu? und bist du befugt, uns alles, was wir dir thun, mit gleicher Münze zu bezahlen? Du wirst dir kein gleiches Recht mit deinem Vater anmaßen, kein gleiches Recht mit deinem Gebieter, wenn du einen hast: sie alles, was du von ihnen leidest, wieder empfinden zu lassen, dich mit Worten oder Thaten wider sie zu vergehen, wenn sie dir etwas zu nahe treten; und mit dem Vaterlande, und mit den Gesetzen willst du gleiches Recht haben? Gegen uns willst du dich für befugt halten, so bald wir etwas wider dich beschlossen, dich wider uns aufzulehnen? den Gesetzen, dem Vaterlande, so viel bey dir steht, den Untergang anzurichten? und du glaubst rechtschaffen zu handeln? du, der du dich im Ernste der Tugend befleißigen willst? Steht es so um deine Weisheit, daß du nicht einmal einsiehest, daß Vater und Mutter und Vorfahren lange nicht so ehrwürdig, nicht so hoch zu schätzen, nicht so heilig sind, bey den Göttern sowohl, als bey allen Menschen, die bey Verstande sind, in keinem solchen Ansehen stehen, als das Vaterland?« Sie fahren in diesem Tone fort, und setzen endlich hinzu: »Bedenke, Sokrates! ob du nicht unbillig gegen uns verfährst? Wir haben dich gezeugt, erzogen und unterrichtet; wir haben dich, und jeden atheniensischen Bürger, so viel bey uns gestanden, aller Wolthaten theilhaftig gemacht, die das gesellschaftliche Leben gewähren kann; und gleichwohl haben wir dir, und jedwedem, der sich zu Athen niedergelassen, die Erlaubniß gegeben, wenn ihm unsre Staatsverfassung, nach einer hinlänglichen Prüfung, nicht ansteht, mit den Seinigen davon zu gehen, und sich, wohin er will, zu begeben. Die Thore von Athen stehen einem jeden offen, dem es in der Stadt nicht gefällt, und er kann das Seinige ungehindert mitnehmen. Wer aber gesehen, wie es bey uns zugehet, und wie wir Recht und Gerechtigkeit handhaben, und dennoch bey uns geblieben, der ist stillschweigend einen Vertrag eingegangen, sich alles gefallen zu lassen, was wir ihm befehlen; und wenn er ungehorsam ist, so begehet er eine dreyfache Ungerechtigkeit. Er ist ungehorsam gegen seine Eltern, ungehorsam gegen seine Zucht und Lehrmeisterer, und er übertritt den Vertrag, den er mit uns eingegangen ist. Liebster Freund Krito! diese Reden glaube ich zu hören, wie die Korybanten sich einbilden, den Ton der Flöten zu hören, und die Stimme klinget so stark in meinen Ohren, daß ich nichts anders darüber vernehmen kann.« Krito gieng weg, überzeugt, aber unwillig, daß die Vernunft seinen Vorschlag gemißbilliget hatte.
Fußnoten
4 Mit dem Xenophon ward er auf folgende Weise bekannt. Er begegnete ihm in einem engen Durchgange. Der schöne und bescheidene Anstand des jungen Menschen gefiel ihm so wohl, daß er ihm den Stock vorhielt, und ihn nicht weiter gehn lassen wollte. Jüngling! sprach er, weißt du, wo die Bedürfnisse des Lebens zu bekommen sind? – O ja! antwortete Xenophon. – Weißt du aber auch, wo Tugend und Rechtschaffenheit zu erhalten ist? – Der junge Mensch stutzte und sah ihn an. – So folge mir, fuhr Sokrates fort, ich will es dir zeigen. Er folgte ihm, ward sein treuster Schüler, und man weiß, wie viel er ihm zu verdanken gehabt.
ECHEKRATES Warst du selbst mein Phädon! denselben Tag beym Sokrates, als er im Kerker den Gift zu sich nahm, oder hat es dir jemand erzählet?
PHÄDON Ich selbst, Echekrates! war da.
ECHEKRATES Was sprach der Mann vor seinem Tode? wie starb er? Wenn mir doch jemand alles umständlich erzählen wollte! die Phliasischen Bürger kommen itzt selten nach Athen, und auch von daher ist schon lange kein Gast zu uns gekommen, der uns dergleichen Nachrichten hätte überbringen können. So viel haben wir vernommen: Sokrates hat Gift getrunken und ist gestorben; nicht den geringsten Umstand mehr.
PHÄDON Nichts von seiner Verurtheilung?
ECHEKRATES O ja! Das hat uns jemand erzählet. Wir verwunderten uns noch, daß man ihn, nachdem er bereits verurtheilet gewesen, noch so lange hat leben lassen. Wie kam dieses, Phädon?
PHÄDON Ganz von ungefähr, Echekrates. Es traf sich eben, daß