Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund Freud

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Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe - Sigmund Freud

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die Bedingungen seiner seelischen und intellektuellen Entwicklung zu erraten. Wir huldigen ihm, indem wir an ihm lernen. Es beeinträchtigt seine Größe nicht, wenn wir die Opfer studieren, die seine Entwicklung aus dem Kinde kosten mußte, und die Momente zusammentragen, die seiner Person den tragischen Zug des Mißglückens eingeprägt haben.

      Heben wir ausdrücklich hervor, daß wir Leonardo niemals zu den Neurotikern oder »Nervenkranken«, wie das ungeschickte Wort lautet, gezählt haben. Wer sich darüber beklagt, daß wir es überhaupt wagen, aus der Pathologie gewonnene Gesichtspunkte auf ihn anzuwenden, der hält noch an Vorurteilen fest, die wir heute mit Recht aufgegeben haben. Wir glauben nicht mehr, daß Gesundheit und Krankheit, Normale und Nervöse, scharf voneinander zu sondern sind und daß neurotische Züge als Beweise einer allgemeinen Minderwertigkeit beurteilt werden müssen. Wir wissen heute, daß die neurotischen Symptome Ersatzbildungen für gewisse Verdrängungsleistungen sind, welche wir im Laufe unserer Entwicklung vom Kinde bis zum Kulturmenschen zu vollbringen haben, daß wir alle solche Ersatzbildungen produzieren, und daß nur die Anzahl, Intensität und Verteilung dieser Ersatzbildungen den praktischen Begriff des Krankseins und den Schluß auf konstitutionelle Minderwertigkeit rechtfertigen. Nach den kleinen Anzeichen an Leonardos Persönlichkeit dürfen wir ihn in die Nähe jenes neurotischen Typus stellen, den wir als »Zwangstypus« bezeichnen, sein Forschen mit dem »Grübelzwang« der Neurotiker, seine Hemmungen mit den sogenannten Abulien derselben vergleichen.

      Das Ziel unserer Arbeit war die Erklärung der Hemmungen in Leonardos Sexualleben und in seiner künstlerischen Tätigkeit. Es ist uns gestattet, zu diesem Zwecke zusammenzufassen, was wir über den Verlauf seiner psychischen Entwicklung erraten konnten.

      Die Einsicht in seine hereditären Verhältnisse ist uns versagt, dagegen erkennen wir, daß die akzidentellen Umstände seiner Kindheit eine tiefgreifende störende Wirkung ausüben. Seine illegitime Geburt entzieht ihn bis vielleicht zum fünften Jahre dem Einflusse des Vaters und überläßt ihn der zärtlichen Verführung einer Mutter, deren einziger Trost er ist. Von ihr zur sexuellen Frühreife emporgeküßt, muß er wohl in eine Phase infantiler Sexualbetätigung eingetreten sein, von welcher nur eine einzige Äußerung sicher bezeugt ist, die Intensität seiner infantilen Sexualforschung. Schau-und Wißtrieb werden durch seine frühkindlichen Eindrücke am stärksten erregt; die erogene Mundzone empfängt eine Betonung, die sie nie mehr abgibt. Aus dem später gegenteiligen Verhalten, wie dem übergroßen Mitleid mit Tieren, können wir schließen, daß es in dieser Kindheitsperiode an kräftigen sadistischen Zügen nicht fehlte.

      Ein energischer Verdrängungsschub bereitet diesem kindlichen Übermaß ein Ende und stellt die Dispositionen fest, die in den Jahren der Pubertät zum Vorschein kommen werden. Die Abwendung von jeder grobsinnlichen Betätigung wird das augenfälligste Ergebnis der Umwandlung sein; Leonardo wird abstinent leben können und den Eindruck eines asexuellen Menschen machen. Wenn die Fluten der Pubertätserregung über den Knaben kommen, werden sie ihn aber nicht krank machen, indem sie ihn zu kostspieligen und schädlichen Ersatzbildungen nötigen; der größere Anteil der Bedürftigkeit des Geschlechtstriebes wird sich dank der frühzeitigen Bevorzugung der sexuellen Wißbegierde zu allgemeinem Wissensdrang sublimieren können und so der Verdrängung ausweichen. Ein weit geringerer Anteil der Libido wird sexuellen Zielen zugewendet bleiben und das verkümmerte Geschlechtsleben des Erwachsenen repräsentieren. Infolge der Verdrängung der Liebe zur Mutter wird dieser Anteil in homosexuelle Einstellung gedrängt werden und sich als ideelle Knabenliebe kundgeben. Im Unbewußten bleibt die Fixierung an die Mutter und an die seligen Erinnerungen des Verkehrs mit ihr bewahrt, verharrt aber vorläufig in inaktivem Zustand. In solcher Weise teilen sich Verdrängung, Fixierung und Sublimierung in die Verfügung über die Beiträge, welche der Sexualtrieb zum Seelenleben Leonardos leistet.

      Aus dunkler Knabenzeit taucht Leonardo als Künstler, Maler und Plastiker vor uns auf, dank einer spezifischen Begabung, die der frühzeitigen Erweckung des Schautriebes in den ersten Kinderjahren eine Verstärkung schulden mag. Gerne würden wir angeben wollen, in welcher Weise sich die künstlerische Betätigung auf die seelischen Urtriebe zurückführt, wenn nicht gerade hier unsere Mittel versagen würden. Wir bescheiden uns, die kaum mehr zweifelhafte Tatsache hervorzuheben, daß das Schaffen des Künstlers auch seinem sexuellen Begehren Ableitung gibt, und für Leonardo auf die von Vasari übermittelte Nachricht hinzuweisen, daß Köpfe von lächelnden Frauen und schönen Knaben, also Darstellungen seiner Sexualobjekte, unter seinen ersten künstlerischen Versuchen auffielen. In aufblühender Jugend scheint Leonardo zunächst ungehemmt zu arbeiten. Wie er in seiner äußeren Lebensführung den Vater zum Vorbild nimmt, so durchlebt er eine Zeit von männlicher Schaffenskraft und künstlerischer Produktivität in Mailand, wo ihn die Gunst des Schicksals im Herzog Lodovico Moro einen Vaterersatz finden läßt. Aber bald bewährt sich an ihm die Erfahrung, daß die fast völlige Unterdrückung des realen Sexuallebens nicht die günstigsten Bedingungen für die Betätigung der sublimierten sexuellen Strebungen ergibt. Die Vorbildlichkeit des Sexuallebens macht sich geltend, die Aktivität und die Fähigkeit zu raschem Entschluß beginnen zu erlahmen, die Neigung zum Erwägen und Verzögern wird schon beim heiligen Abendmahl störend bemerkbar und bestimmt durch die Beeinflussung der Technik das Schicksal dieses großartigen Werkes. Langsam vollzieht sich nun bei ihm ein Vorgang, den man nur den Regressionen bei Neurotikern an die Seite stellen kann. Die Pubertätsentfaltung seines Wesens zum Künstler wird durch die frühinfantil bedingte zum Forscher überholt, die zweite Sublimierung seiner erotischen Triebe tritt gegen die uranfängliche, bei der ersten Verdrängung vorbereitete zurück. Er wird zum Forscher, zuerst noch im Dienste seiner Kunst, später unabhängig von ihr und von ihr weg. Mit dem Verlust des den Vater ersetzenden Gönners und der zunehmenden Verdüsterung im Leben greift diese regressive Ersetzung immer mehr um sich. Er wird »impacientissimo al pennello«, wie ein Korrespondent der Markgräfin Isabella d’Este berichtet, die durchaus noch ein Bild von seiner Hand besitzen will. Seine kindliche Vergangenheit hat Macht über ihn bekommen. Das Forschen aber, das ihm nun das künstlerische Schaffen ersetzt, scheint einige der Züge an sich zu tragen, welche die Betätigung unbewußter Triebe kennzeichnen, die Unersättlichkeit, die rücksichtslose Starrheit, den Mangel an Fähigkeit, sich realen Verhältnissen anzupassen.

      Auf der Höhe seines Lebens, in den ersten Fünfzigerjahren, zu einer Zeit, da beim Weibe die Geschlechtscharaktere bereits rückgebildet sind, beim Manne nicht selten die Libido noch einen energischen Vorstoß wagt, kommt eine neue Wandlung über ihn. Noch tiefere Schichten seines seelischen Inhaltes werden von neuem aktiv; aber diese weitere Regression kommt seiner Kunst zugute, die im Verkümmern war. Er begegnet dem Weibe, welches die Erinnerung an das glückliche und sinnlich verzückte Lächeln der Mutter bei ihm weckt, und unter dem Einfluß dieser Erweckung gewinnt er den Antrieb wieder, der ihn zu Beginn seiner künstlerischen Versuche, als er die lächelnden Frauen bildete, geleitet. Er malt die Mona Lisa, die heilige Anna selbdritt und die Reihe der geheimnisvollen, durch das rätselhafte Lächeln ausgezeichneten Bilder. Mit Hilfe seiner urältesten erotischen Regungen feiert er den Triumph, die Hemmung in seiner Kunst noch einmal zu überwinden. Diese letzte Entwicklung verschwimmt für uns im Dunkel des herannahenden Alters. Sein Intellekt hat sich noch vorher zu den höchsten Leistungen einer seine Zeit weit hinter sich lassenden Weltanschauung aufgeschwungen.

      Ich habe in den voranstehenden Abschnitten angeführt, was zu einer solchen Darstellung des Entwicklungsganges Leonardos, zu einer derartigen Gliederung seines Lebens und Aufklärung seines Schwankens zwischen Kunst und Wissenschaft berechtigen kann. Sollte ich mit diesen Ausführungen auch bei Freunden und Kennern der Psychoanalyse das Urteil hervorrufen, daß ich bloß einen psychoanalytischen Roman geschrieben habe, so werde ich antworten, daß ich die Sicherheit dieser Ergebnisse gewiß nicht überschätze. Ich bin wie andere der Anziehung unterlegen, die von diesem großen und rätselhaften Manne ausgeht, in dessen Wesen man mächtige triebhafte Leidenschaften zu verspüren glaubt, die sich doch nur so merkwürdig gedämpft äußern können.

      Was immer aber die Wahrheit über Leonardos Leben sein mag, wir können von unserem Versuche, sie psychoanalytisch zu ergründen, nicht eher ablassen, als bis wir eine andere Aufgabe erledigt haben. Wir müssen ganz allgemein die Grenzen abstecken,

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