Lucias heiße Nächte. Anonym
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„Ich werde nie Großmutter sein. Ich werde mir immer alles nehmen, was ich haben will, bis zu dem Tage, an dem ich von hier in Richtung Meer gehen werde. Und immer weiter gehen werde, bis das Wasser meine Knie umspült, bis meine Brüste im Wasser sind, bis nur noch meine Haare und dann nichts mehr zu sehen ist. An diesem Tage habe ich mir das letzte genommen, was ich mir nehmen wollte, das Leben!“
Die Giardino-Bar gegenüber dem Floridiana öffnete früh. Viele nahmen hier ihren Frühstückscaffè mit einer Zigarette oder den morgendlichen Apéritiv, einen Camparisoda, einen Rabarbero zucco oder den mundigen Rosso antico.
Lucia blickte auf ihre Armbanduhr. Zehn Uhr — ein herrlicher Morgen. Die Stadt erwacht. Ein guter Platz, Leute zu beobachten. Die Straßenkreuzung gab viel her für die Augen. Es waren kaum Autos unterwegs, man ging zu Fuß. Touristen eilten zum Strand, nur ja keine Minute Sonnenbraterei verpassen. Bäuerliche Frauen mit großen Kopftüchern auf dem Kirchgang. Reiche Amerikaner mit Fotoausrüstung, mit Brillanten behangen. Verspätete Nachtbummler, die der Bus aus Rimini ausgespuckt hatte. Geldadel aus Mailand und Rom, ohne Schmuck, ohne Aufwand, die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug in der Hand haltend. Bei so viel Mühe des Herunterspielens klatschten einem geradezu die Lirebündel um die Ohren. Der Kellner erschien in der Sommeruniform eines Flottenadmirals.
„Un caffè freddo!“
„Prego, subito!“
Wie viele Tage war sie nun hier? Drei, vier? Vier wohl, aber das war nicht wichtig.
„Wie lange bleibst du?“ hatte ihre Mutter in Mailand gefragt.
„Ich weiß nicht“, hatte sie geantwortet. „Vielleicht ein paar Wochen, ein paar Monate, ich weiß nicht.“
Mutter war ehrlich entsetzt gewesen. „Aber warum, bambina? Was hast du vor? Ein Urlaub, so zum Erholen, der dauert vier oder fünf Wochen. Dann ist man wieder in Ordnung. So haben es Vater und ich stets gemacht und so kennst du es auch. Wozu jetzt diese Planlosigkeit?“
„Mamma, versteh mich. Ich handle nicht planlos. Ich muß mit mir ins reine kommen. Ein neues Leben anfangen, erwachsen werden.“
„Ein neues Leben!“ Mutter schnaubte. „Hat man so was je gehört? Mit zwanzig will sie ein neues Leben anfangen! — Komm her zu mir, bambina. Sag es mir, wenn dich etwas bedrückt. Kann ich dir helfen? Hast du dir vielleicht …“ Mamma konnte den Satz nicht vollenden. Sie wäre zusammengebrochen, hätte sie je über Sexuelles, über Erotik sprechen müssen.
„Nein Mamma, ich habe nicht. Aber, vielleicht werde ich —“, auch Lucia konnte nicht weitersprechen. Doch aus anderem Grund. Die Mamma hätte sie doch nicht verstanden. Es wäre ein Gespräch ohne Anfang und Ende geworden, ein Fluß, der im Kreise fließt, ein Strom, der sich in sich selbst ergießt und keine Mündung, kein Ergebnis. Zum Schluß hätte die Mamma geweint und nichts begriffen, außer, daß ihre Tochter seltsam, fern und unerreichbar war.
Was sollte sie, die Mutter schon anfangen mit dem Wort Emanzipation? Und wenn sie, die Tochter, ihr dann noch zu erklären versucht hätte, daß es ihr vor allem auf die sexuelle Emanzipation ankam?
Doch es war sinnlos, darüber zu grübeln. Sie hatte sich entschlossen. Sie war schon zu weit gegangen in diesen vier Tagen, als daß sie noch zurück gekonnt hätte. Mein Gott, wie leicht war es gewesen! Und wieviel Vergnügen hatte es gemacht! Das größte, schönste, gewaltigste, intensivste Vergnügen der Welt! Und man konnte es jederzeit haben, an jedem Ort, zu jeder Zeit — fantastico!
Lucia betrachtete sich. War sie für einen Sonntag halbwegs korrekt angezogen? Im Hotel hatte sie nicht daran gedacht, daß Sonntag war, maß dem Tag auch weiter keine Bedeutung bei. Doch hier, quasi auf dem Präsentierteller, an einer Straße, die voller Kirchgänger war?
Sie sah auf ihre langen gebräunten Beine, die nackten Füße in den aufregenden Sandaletten, die lackierten Zehen. Der braune Minirock war entschieden zu kurz. Aber auch durch Ziehen ließ er sich nicht verlängern und gab weiterhin den größten Teil der kräftigen Oberschenkel frei. Die dünne, lindgrüne Bluse ließ alles ahnen, bei intensiver Betrachtung auch sehen. Den mittleren Knopf wenigstens sollte sie schließen! Sie versuchte es, vergeblich. Ein BH hätte die Brüste besser geteilt, so war die Bluse gearbeitet. Aber was der BH zurückgehalten und geteilt hätte, trug Lucia lieber naturell. Der Knopf blieb offen.
Eine Zigarette! „Darf ich Ihnen Feuer anbieten?“ Ein Feuerzeug klickte. Der Fremde sprach italienisch mit einem kleinen Akzent. „Gestatten Sie?“
Lucia schaute um sich. Die Bar war bereits recht gut besucht. Sie nickte.
Verstohlen betrachtete sie den Ausländer. Schwarze Schuhe, helle Leinenhose, dunkelblauer Blazer mit weißem Hemd und Krawatte, das dunkelblonde Haar sorgfältig gescheitelt und gekämmt. Er könnte Deutscher sein.
„Wie heißen Sie?“ Lucia hatte die Frage ganz ohne Vorbereitung abgeschossen.
Der Fremde stutzte, faßte sich aber und sagte knapp:
„Neufert. Neufert aus Frankfurt.“
Lucia lachte: „Ihren Vornamen will ich wissen!“
Herr Neufert aus Frankfurt, er mochte um die Dreißig sein, stutzte und faßte sich abermals. „Rolf“, sagte er, „Rolf Neufert.“ Er wagte nicht, die Gegenfrage zu stellen. „Ich heiße Lucia“, half sie ihm und Rolf Neufert warf ein „Angenehm!“ dazwischen.
„Wieso sprechen Sie so gut italienisch?“
Bescheiden wehrte er ab. „Mein Vater hat ein Importgeschäft. Textil und so. Wir machen viele Geschäfte mit Italien. Und da ich das Ganze mal übernehmen soll, lag es auf der Hand. Ich habe drei Jahre in Florenz studiert“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.
Das Gespräch entwickelte sich. Rolf erwies sich als Mann von Welt, mit besten Manieren, korrekt, aber doch wenig erfahren. Selbst am Nebentisch konnte man spüren, daß Rolf immer mehr entflammte. Er erzählte von sich, von seiner Familie, den Geschäften, als ob er noch vor dem Mittagessen einen Heiratsantrag machen wolle.
Und Mittag wurde es bald. Die Verabschiedung. Die unvermeidliche Frage. „Können wir uns Wiedersehen, Lucia?“
Lucia schwieg. Einen Augenblick nur war sie in Versuchung.
Rolf drängte. „Bitte, ich möchte Sie einladen. Heute abend, morgen abend. Wir gehen ins La Stalla, fahren zum Eden Rock! Kennen Sie Eden Rock? Es ist fantastisch!“ Sie bot ihm eine Zigarette an. „Nun seien Sie mal ganz ruhig, Rolf. Ich werde Sie vermutlich schockieren. Aber es muß wohl sein!“
Er begriff nichts: „Sind Sie etwa verheiratet?“
„Nein. Hören Sie mir mal zu. Sie verstehen ein wenig von Italien —“ Rolf nickte Zustimmung — „Sie verstehen ein wenig von italienischer Mentalität, haben darüber gelesen, vor allem über die Frauen“ — wiederum Nicken — „vergessen Sie das alles! Es stimmt nicht mehr!“
„Aber dann verstehe ich Sie erst recht nicht. Wenn Sie also meinen, daß Sie modern sind, frei, wenn ich mich so ausdrücken darf, warum wollen Sie dann nicht eine kleine, harmlose Einladung annehmen?“
„Ich will es Ihnen erklären, Rolf.“ Sie versuchte, ihrer Stimme den schulmeisterlichen Klang zu nehmen. „Nehmen wir an, wir gehen heute abend