Die bekanntesten Werke von Robert Louis Stevenson. Robert Louis Stevenson
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Der arme Archie stand sprachlos. Sie hatte sich bereits einige Schritte entfernt, bevor er die Sprache zurückgewann.
»Kirstie!« rief er. »O Kirstie, Kind!«
Ein Flehen lag in seiner Stimme und unverhohlenes Erstaunen, welches deutlich zeigte, daß der Schulmeister verschwunden war.
Sie wandte sich gegen ihn. »Was haben Sie mich Kirstie zu nennen? Was haben Sie überhaupt mit mir zu schaffen? Gehen Sie zu Ihren Freunden, und schwatzen Sie denen die Ohren voll!«
Er konnte nur flehend wiederholen: »Kirstie!«
»Kirstie, in der Tat!« rief das Mädchen mit flammenden Augen und schneeweißem Gesicht. »Mein Name ist Fräulein Christina Elliott, gebe ich Ihnen zu verstehen, und ich verbiete Ihnen, mich irgendwie anders zu nennen. Kann ich nicht Liebe haben, so verlange ich wenigstens Respekt, Mr. Weir. Ich stamme von anständigen Leuten ab, und ich verlange Respekt. Was habe ich denn getan, daß Sie mich so leichtfertig behandeln? Was habe ich nur getan? Was habe ich getan? Oh, was habe ich überhaupt getan?« Ihre Stimme überschlug sich bei der dritten Wiederholung. »Ich glaubte – ich glaubte – ich glaubte, ich wäre so glücklich!« Das erste Schluchzen brach aus ihr hervor, krampfartig, gleich einer tödlichen Krankheit.
Archie lief auf sie zu. Er nahm das arme Kind in seine Arme, und sie schmiegte sich an seine Brust wie an die einer Mutter und packte ihn mit Händen, fest wie Schraubstöcke. Er fühlte, wie ihr ganzer Körper in verzweifeltem Schmerz kreiste, und Mitleid, stärker als Worte, erfaßte ihn: Mitleid und Furcht zugleich vor diesem explosiven Etwas, das er da in den Armen hielt, das er nicht verstand und in dessen Maschinerie er dennoch eingegriffen. Der Vorhang seiner Knabenzeit ward plötzlich vor ihm hochgezogen, und zum erstenmal erschaute er das rätselvolle Gesicht des Weibes in seiner wahren Gestalt. Vergebens überdachte er ihre Unterredung; er wußte nicht, worin er gefehlt. Das Ganze schien schuldlos über ihn hereingebrochen – eine willkürliche Erschütterung der brutalen Natur –.
Nachwort des englischen Herausgebers
Mit den letzten gedruckten Worten »eine willkürliche Erschütterung der brutalen Natur« endet der Roman »Die Herren von Hermiston«. Jene Worte wurden, soviel ich weiß, noch am nämlichen Morgen diktiert, da der letzte, jähe Anfall den Autor dahinraffte. »Die Herren von Hermiston« nimmt somit in den Werken Stevensons den Platz ein, den Edwin Drood in der Lebensarbeit Dickens’ oder Denis Duvals in der Thakerays innehaben: oder vielmehr, unser Roman bedeutet relativ mehr; denn während jenen anderen beiden Fragmenten ein ehrenvoller Platz in ihrer Verfasser Werken gebührt, nimmt »Hermiston« in Stevensons Schaffen zweifellos den Ehrenplatz ein.
Die Leser werden in der Frage, ob sie Weiteres über den geplanten Verlauf der Geschichte und das Schicksal ihrer Charaktere zu erfahren wünschen, geteilter Meinung sein. Einigen wird Schweigen und die Möglichkeit, selbst mit Hilfe solcher Fingerzeige, wie der vorliegende Text sie bietet, sich die Fortsetzung auszuspinnen, als das Beste erscheinen. Ich gestehe, daß dies auch die Auffassung ist, zu der ich persönlich neige. Da andere jedoch – und zweifellos die Mehrzahl der Leser – durchaus alles wissen möchten, was es darüber zu sagen gibt, und da Herausgeber und Verleger ihre Stimmen mit ihnen vereinen, kann ich wohl nicht umhin, ihren Wünschen entgegenzukommen. Der geplante Entwurf verläuft, soweit er bei des Autors Tode seiner Stieftochter und treuen Gehilfin, Mrs. Strong, bekannt war, etwa wie folgt:
Archie hält an seinem guten Vorsatz fest, weitere Schritte zu vermeiden, die die jüngere Kirstie kompromittieren könnten. Frank Innes macht den Vorteil, der ihm aus des Mädchens Unglück und verletzter Eitelkeit erwächst, seiner Absicht, sie zu verführen, dienstbar, und Kirstie, obwohl im Herzen immer noch Archie treu, fällt Frank zum Opfer. Die ältere Kirstie bemerkt als erste, daß etwas nicht im Lot ist; sie hält Archie für den Schuldigen und klagt ihn an, wodurch er erst von seiner Liebsten Unglück erfährt. Er leugnet nicht sofort, der Schuldige zu sein, sondern sucht die junge Kirstie auf, die ihm die Wahrheit gesteht, und er, der sie immer noch liebt, verspricht in ihrer Not, sie zu schützen und ihr beizustehen. Anschließend daran hat er mit Frank Innes eine Unterredung, die damit endet, daß Archie Frank im Streit neben des Betenden Webers Stein tötet. Inzwischen haben die Vier Schwarzen Brüder von dem Verrat an ihrer Schwester erfahren und beschließen, an Archie, als dem vermeintlichen Verführer, Rache zu nehmen. Sie sind im Begriff, ihn zu stellen, als die Polizei ihn wegen des Mordes an Frank verhaftet. Er wird vor seinen Vater, den Lord Oberrichter, geführt, schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Inzwischen jedoch hat die ältere Kirstie von ihrer Nichte die Wahrheit erfahren und ihre Neffen benachrichtigt, und diese greifen in einem ungeheuren Rückschlag der Gefühle zu Archies Gunsten nach der uralten Tradition ihres Hauses zur Selbsthilfe. Sie sammeln eine Schar von Anhängern, brechen nach einem harten Kampf in das Gefängnis ein, darin Archie gefangen liegt, und setzen ihn frei. Er und die junge Kirstie fliehen zusammen nach Amerika. Allein die Qual der Gerichtsverhandlung gegen den eigenen Sohn ist für den Lord Oberrichter zu stark gewesen; er stirbt am Schlagfluß. »Ich weiß nicht«, fügt Stevensons Amanuensis hinzu, »was aus der älteren Kirstie wird, jedoch diese Gestalt wuchs und erstarkte derart unter seiner Feder, daß ich überzeugt bin, er hatte ihr irgendein dramatisches Geschick zugedacht.«
Der Plan jedes schöpferischen Werks ist selbstverständlich während seiner Ausführung Veränderungen von des Künstlers Hand ausgesetzt; und nicht nur der Charakter der älteren Kirstie, nein auch noch andere Elemente der Erzählung mögen sehr wohl eine Abweichung von dem ursprünglichen Entwurf erfahren haben. Es scheint indes gewiß, daß die nächste Entwicklung der Beziehungen zwischen Archie und der jüngeren Kirstie dem oben Skizzierten entsprochen haben würde; diese unkonventionelle Auffassung von des Liebhabers Ritterlichkeit und unerschütterlicher Treue gegenüber der Geliebten auch nach deren Fehltritt ist für den Autor ungemein charakteristisch. Die Rache, die den Verführer neben des Betenden Webers Stein ereilen sollte, ist bereits in den ersten Worten der Einleitung angedeutet worden, während die Lage und das Schicksal des Richters, der sich, einem Brutus ähnlich, der Pflicht gegenübersieht, den eigenen Sohn an den Galgen zu schicken, offenbar den Höhepunkt und das tragische Moment des Romans bilden sollten.
Wie dieser letzte Umstand sich innerhalb des Rahmens juristischer Möglichkeiten hätte verwirklichen lassen, ist nur schwer zu erraten; er bildet jedoch einen der Punkte, denen der Autor die sorgfältigste Aufmerksamkeit widmete. Mrs. Strong sagt ganz einfach, der Lord Oberrichter verurteile, einem alten Römer gleich, seinen Sohn zum Tode; allein die erste juristische Autorität Schottlands versichert mir, daß keinem Richter, wenn auch noch so mächtig von Charakter und Amt, gestattet worden wäre, bei der Verhandlung gegen einen so nahen Verwandten den Vorsitz zu führen. Der Lord Oberrichter war das Haupt der Kriminaljustiz des Landes; er hätte vielleicht darauf bestehen können, während der Verhandlung gegen seinen Sohn auf dem Richterstuhl anwesend zu sein, aber niemals hätte man ihm erlaubt, den Vorsitz zu führen oder das Urteil zu sprechen. In einem Briefe Stevensons an Mr. Baxter vom Oktober 1892 findet sich auch eine Stelle, an der er in Ausdrücken, die darauf schließen lassen, daß er dies genau wußte, um Material bittet: »Ich brauche Pitcairns ›Kriminalprozesse‹ quam primum. Gleichfalls einen absolut einwandfreien Text des schottischen Richtereids. Ferner, falls Pitcairn nicht bis in die gewünschte Zeit reicht, einen möglichst vollständigen Bericht eines schottischen Mordprozesses zwischen 1790 und 1820. Verstehe mich recht: so vollständig wie nur möglich. Gibt es ein Buch, das mir den folgenden Tatsachen gegenüber als Anleitung dienen könnte? Der Lord Oberrichter