50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2. Эдгар Аллан По
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Kapitel Zweiunddreißig
Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind
Einige der einzigartigen Dinge, die Rio so farbig und pittoresk machen, sind freilich schon bedroht. Vor allem die favelas, die Negerdörfer mitten in der Stadt, wird man sie in ein paar Jahren noch sehen? Die Brasilianer sprechen nicht gern von ihnen, und im sozialen, im hygienischen Sinne sind sie sicherlich eine Rückständigkeit inmitten einer Stadt, die von Sauberkeit blinkt und durch einen vorbildlichen hygienischen Dienst das vormals endemische gelbe Fieber in zwei Jahrzehnten gänzlich ausgerottet hat. Aber sie sind ein besonderer Farbton inmitten dieses kaleidoskopischen Bildes, und wenigstens eines dieser Sternchen im Mosaik sollte dem Stadtbild erhalten bleiben, weil es ein Stück menschlicher Natur darstellt inmitten der Zivilisation.
Diese favelas haben eine besondere Geschichte. Den Negern, die zum Teil von ganz kleinem Einkommen leben, war es zu teuer, in Mietswohnungen innerhalb der Stadt zu wohnen; von außerhalb wiederum täglich an den Dienstplatz zu kommen, bedeutet eine zweimalige Reise und kostet Fahrgeld. So suchten sie sich auf den Hügeln und Felsen inmitten der Stadt, zu denen keine Wege hinaufführen, irgendeine Stelle und bauten sich, ohne nach Grundbesitz zu fragen, ein Haus oder vielmehr eine Hütte. Für eine solchemocambo benötigt man keinen Architekten. Man nimmt ein paar Dutzend Bambusstäbe und schlägt sie in die Erde. Man füllt den Zwischenraum zwischen den Stäben mit Lehm, den man sich aufgräbt und hartschlägt. Man stampft den Fußboden glatt. Man deckt das Dach mit einer Art Binsen zu. Und die favela ist fertig. Sie braucht keine Fenstergläser, es tun es ein paar Zinkplatten, irgendwo im Hafen aufgelesen. Ein Vorhang, aus einem alten Sack gefertigt, verdeckt den Eingang, der allenfalls noch durch Latten aus alten Kisten verschönt wird, und es ist dieselbe Hütte, wie sie vor hunderten Jahren ihr Urahn im afrikanischen Kral gebaut. An Luxus ist ihre Ausstattung nicht verschwenderisch reich – ein selbstgezimmerter Tisch, ein Bett, ein paar Sessel und ein paar farbige Bilder aus alten Zeitschriften an den Wänden – und auch sonst entbehren sie mancher modernen Annehmlichkeit. So muß das Wasser den steilen, in den Lehm oder Felsen heraufgestuften Weg unten vom Brunnen heraufgeschleppt werden; ununterbrochen wie in einem Paternosteraufzug sieht man Frauen und Kinder das kostbare Naß auf dem Kopf herauftragen und zwar nicht in Krügen – das wär eine zu kostspielige Anschaffung – sondern in alten Benzinbehältern. Auch das elektrische Licht reicht nicht bis in diese Hütten, abends blinken und zwinkern sie nur mit kleinen Petroleumlichtern zwischen dem Gebüsch. Und immer wieder der steile Weg hinauf über Stufen und Steine und Stiegen, halsbrecherisch oft und selten sauber, denn zwischen den Hütten treibt sich das sonderlichste Getier herum, Ziegen und hagere Katzen, räudige Hunde und knochige Hühner, das Spülwasser rinnt und tropft trüb ohne Unterlaß den Felsen hinab – fünf Minuten von einem Luxusstrand oder einem Boulevard meint man inmitten eines polynesischen Urwalddorfes oder in einem afrikanischen Kral zu sein. Man hat das Summum an Primitivität gesehen, die niederste Form des Hausens und Lebens, eine Form, die man in Europa oder Nordamerika kaum mehr für glaubhaft gehalten. Aber sonderbar – der Anblick hat nichts Bedrückendes, nichts Abstoßendes, nichts Aufreizendes, nichts Beschämendes. Denn diese Neger fühlen sich hier tausendmal glücklicher als unser Proletariat in seinen Mietskasernen. Es ist ihr eigenes Haus, sie können dort tun und lassen, was ihnen beliebt, abends hört man sie singen und lachen – sie sind hier ihre Herren. Kommt ein Grundbesitzer oder eine Kommission, die sie vertreibt, um hier eine Straße oder ein modernes Wohnviertel anzulegen, so ziehen sie gleichmütig auf einen andern Berg. Nichts hindert sie, das dünne Haus gleichsam auf ihrem Rücken mitzunehmen. Und dann: weil sie hoch auf den Bergen liegen, an den unzugänglichsten Kanten und Ecken, haben diese Favellas den schönsten Blick, den man sich denken kann, denselben Blick wie die kostbarsten Luxusvillen, und es ist dieselbe üppige Natur, die hier ihr winzigstes Stückchen Grund mit Palmen überhöht und mit Bananen großmütig speist, jene wunderbare Natur von Rio, die es der Seele verbietet, schwermütig und unglücklich zu sein, weil sie unablässig tröstet mit ihrer weichen, beschwichtigenden Hand. Wie oft bin ich diese glitschigen, lehmigen Stufen hinaufgeklettert in diese Negerdörfer, und nie habe ich hier einen unfreundlichen, einen unfreudigen Menschen gefunden. Ein sonderbares, ein unvergleichliches Stück Rio wird mit diesen favelasverschwinden, und ich kann mir die Hügel von Gávea, den alten Morro kaum denken ohne diese kleinen, dem Felsen kühn aufgeklebten Dörfer, die mit ihrer Primitivität daran erinnern, wie vieles an Zuviel wir haben und fordern, und daß selbst im Minimum der Existenz wie in einem Tautropfen sich die ganze Vielfalt des Lebens zusammenfassen kann.
Auch eine andere Kuriosität von Rio wird bald dem zivilisatorischen Ehrgeiz und vielleicht auch der Moral zum Opfer fallen – wie in so vielen Städten Europas, in Hamburg, in Marseille: