Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson

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       FC Chelsea – Dynamo Moskau 3:3, Freundschaftsspiel, Stamford Bridge, London, 13. November 1945.

      

      Nachdem Dynamo dann noch Cardiff City mit 10:1 zerbröselt, Arsenal mit 4:3 geschlagen und gegen die Rangers 2:2 unentschieden gespielt hatte, wurde von ihren Methoden geradezu geschwärmt. In der Daily Mail merkte Geoffrey Simpson an, Dynamo spiele „einen ganz neuen Fußball, der unserem in Klasse, Stil und Effizienz weit voraus ist. Was den Unterhaltungswert angeht – tja, einige von denen, die sich bei unseren Ligaspielen die Seele aus dem Leib jubeln, dürften sich nun fragen, weshalb sie da so herumschreien.“

      Die Frage war schließlich, ob Dynamos Stil mit der Ideologie zusammenhing. Man verglich Dynamos Fußball mit Schach und vermutete, dass ein Großteil des Spiels auf einstudierten Spielzügen beruhte. Die These, dass die Mannschaft im kommunistischen Fußball als Einheit und die Spieler als Rädchen darin verstanden wurden, während der britische Fußball demgegenüber eine größere Individualität erlaubte, mag etwas simpel, aber deshalb nicht ganz falsch sein. Arsenals ehemaliger Halbstürmer Alex James schrieb in News of the World, Dynamos Erfolg „liegt im Teamwork, das ein bestimmtes Muster besitzt. Einen Individualisten wie [Stanley] Matthews oder [Raich] Carter gibt es in ihrer Mannschaft nicht. Sie spielen nach einem Plan, den sie ständig wiederholen und nur wenig variieren. Es müsste eigentlich leicht sein, eine Gegenmaßnahme zu finden und sie damit zu schlagen. Das Fehlen eines Individualisten ist eine große Schwäche.“ Vielleicht aber nutzten Dynamos individuell starke Spieler ihre Begabung auch einfach nur auf eine andere Weise – und niemand hätte ernsthaft bestritten, dass Männer wie Konstantin Beskow, Wsewolod Bobrow und Wassili Karzew ausgezeichnete, technisch starke Fußballer waren.

      Michail Jakuschin, Arkadiews Nachfolger als Trainer bei Dynamo, argumentierte ähnlich ideologisch wie die britische Presse. „Der sowjetische Fußball folgt dem Prinzip des Kollektivspiels“, sagte er. „Ein Spieler muss nicht nur einfach gut sein, sondern gut für eine bestimmte Mannschaft.“ Und Matthews? „Seine individuelle Qualität ist hoch, aber bei uns steht der Kollektivfußball über dem Individualfußball. Wir sind keine Anhänger seines Stils, weil wir glauben, dass die Teamarbeit darunter leiden würde“, antwortete Jakuschin.

      Für den britischen Fußball waren diese Ansätze zu revolutionär, und es wurden keine Lehren aus Dynamos Auftritten gezogen – kein Wunder, hatte man ja schon zuvor die Entwicklungen im südamerikanischen und mitteleuropäischen Fußball ignoriert oder zumindest von oben herab betrachtet. Zwar versuchte Bob McGrory, den Passowotschka-Stil bei Stoke City zu etablieren, scheiterte aber damit – was angesichts eines Stan Matthews in der Mannschaft nicht wirklich überraschte. Vielleicht hätten die Briten Neuerungen offener gegenübergestanden, wenn sie seinerzeit nicht mit einem solchen Überangebot großartiger Flügelspieler gesegnet gewesen wären. Warum hätte man ein System ändern sollen, in dem Männer wie Stan Matthews, Tom Finney und Len Shackleton für England und Willie Waddell, Jimmy Delaney und Gordon Smith bei den Schotten ihren Fähigkeiten freien Lauf lassen konnten?

      Matthews größte Stunde und vielleicht der Höhepunkt des englischen Flügelspiels war das FA-Pokalfinale 1953, in dem sein Verein FC Blackpool auf die Bolton Wanderers traf. Mit seinen Tricks und Finten, die die Gegenspieler zumeist ins Leere laufen ließen, riss er die Mannschaft so sehr mit, dass sie einen 1:3-Rückstand noch drehte und 4:3 gewann. Sechs Monate später sollte Ungarn England auf dem gleichen Platz mit 6:3 abfertigen und der Daily Mirror in seiner Schlagzeile die „(Fußball-)Götterdämmerung“ verkünden. Was die Verlässlichkeit der Flügelspieler anging, stimmte das wohl.

      Natürlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Herbert Chapman als Vater des W-M-Systems dem Flügelspiel äußerst misstrauisch gegenüberstand. Sein System, das die erste bedeutsame Entwicklung in der englischen Fußballtaktik nach fast einem halben Jahrhundert darstellte, hatte die Flügelspieler ursprünglich ausgeklammert. Jetzt waren sie es, die für die Beibehaltung seines Systems sorgten und Neuerungen verhinderten. Für Trainer mit starken Außenspielern war es nur logisch, am Altbewährten festzuhalten. Englands Bilanz direkt nach dem Krieg war zudem gut. Man blieb ab Mai 1947 fast zwei Jahre lang ungeschlagen, wobei unter anderem ein 10:0-Schützenfest gegen Portugal in Estoril und ein 4:0-Sieg gegen den immer noch amtierenden Weltmeister Italien in Turin zu Buche standen. Schottlands Form war durchwachsener, doch auch die Schotten konnten sich mit dem Wissen um sechs Siege in Serie seit Oktober 1948 trösten. So machte die Strahlkraft der Flügelspieler Großbritannien blind für die andernorts erreichten Fortschritte auf taktischem Gebiet. Acht Jahre nach der Tournee von Dynamo Moskau sollten England schließlich sehr unsanft die Augen geöffnet werden.

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