Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor. Thilo Koch
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Thilo Koch
Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor
Saga
Zwischen Grunewald und Brandenburger TorCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1956, 2019 Thilo Koch und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711836170
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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WUNDER DAUERN ETWAS LÄNGER
Nach längerer Abwesenheit von zu Hause grüßt man am Tag der Rückkehr die vielen bestimmbaren und unbestimmbaren Dinge, die zusammen das ausmachen, was wir »Heimat« nennen. Unbewußt wartet der Heimkommende auf eine Begegnung, in der ihm blitzlichtartig und wie in einem Brennpunkt deutlich würde, worin das Besondere, Unverwechselbare dieses Stückchens Erde und seiner Menschen liegt, dem er sich zugehörig fühlt – mag es anderswo auch tausendmal schöner sein.
Nun, in dem ersten Berliner Laden, den ich nach dem Urlaub betrat – es war ein Autoersatzteilegeschäft –, hing ein kleines Schild über dem Ladentisch, auf dem stand: »Unmögliches erledigen wir sofort. Wunder dauern etwas länger.«
DAS SCHÖNE LIEGT SO NAH
Es ist ein Wunder: zwei zierliche Stahlkufen unterm Fuß, und schon ist das kein Mensch mehr. Feuerrotes Trikot und Federkleid machen diesen anmutig-kraftvollen, geschmeidigvollkommenen Mädchenkörper zu einem phantastischen Zwischenwesen in dem Eis-Ausdrucks-Tanz »Der Feuervogel«. Die Arme, die Hände, die Finger, sie greifen in die Höhe, ins Freie, Leichtere, ins andere Element. Das ist der Ansatz zum Vogel, wenn diese überirdisch bewegte Gestalt um die eigene Achse kreiselt oder wie ein Strauß pfeilschnell über die weite Fläche schießt.
Mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen – das, sagt man, ist unsere, des Menschen Sache. Aber wir haben den Antrieb und das Talent, uns von der Erde, der festgegründeten, zu lösen, uns aufzuschwingen in andere Elemente. Auch körperlich, offenbar. Wenn’s einem Esel zu wohl wird, geht er aufs Glatteis und rutscht darauf aus. Gundi Busch dagegen bewegt sich auf dem kalten Spiegel wie unsereins im Wohnzimmer. Wenn’s ihr zu wohl wird, so fürchtet man – erhebt sie sich vom Boden des Berliner Sportpalasts in die freie Luft und ward nie mehr gesehen.
Ein silbernes Ornament aus feinster Spur graben die Schlittschuhe ins Eis, Linien und Kurven von ausgewogener Harmonie. Wenn längst die Schwünge und Sprünge nur Erinnerung sind, spricht diese geprägte Musik, diese rhythmische Graphik auf der spiegelnden Fläche noch von dem schönsten Versuch eines Menschen, die Schwerkraft in sich und für sich aufzuheben, tanzend, gleitend, lächelnd frei zu werden. Auch wenn er immer wieder durch eine stolze Verbeugung abgebrochen wird, der Versuch – es macht unser Entzücken aus, daß wir ihn eine beseligende Minute lang ernst nehmen dürfen.
Der Grunewaldsee ist zugefroren, und am letzten Sonntag gehörte er den Schlittschuhläufern. Der See ist klein, aber tief; das Eis war dünn, aber es trug. Sogar ein recht umfänglicher Herr glitt arglos über den weißgrauen Spiegel. Mit Fahrrädern waren sie gekommen oder zu Fuß von der Straßenbahnhaltestelle »Hundekehle«; mit roten Backen von der ersten Kälte dieses Winters, dem sie sonst dankbar sind für seine Milde. Das Bild ist nicht bunt, nicht hell, nicht strahlend. Die Ufer des Grunewaldsees waren früher dicht bewaldet. Der Holznot der Blockadezeit aber fielen auch hier viele Bäume zum Opfer. Was noch steht an märkischen Kiefern, ragt etwas unvermittelt nackt in den kühlblauen Winterhimmel. Und doch ist dies Natur, für Leute vom Hohenzollerndamm und aus Schmargendorf.
Ums Jagdschloß Grunewald herum stehen noch die alten Kastanien, freundliche Boten aus dem südlichen Europa; noch entblättert zeigen Stamm und Geäst eine Silhouette von wunderbarer Feingliedrigkeit und harmonischem Umriß. Starkes braungelbes Schilfrohr steht wie ein grobes herbstliches Stoppelfeld an der anderen Seite des Sees, hinter dem neu befestigten Steg, einem der vielen nützlich-angenehmen Ergebnisse der Notstandsarbeiten. Das Schilf ist etwas für Vogelliebhaber. Der Cockerspaniel zieht mit aller Kraft hinein ins Entenparadies; aber er kann nicht stöbern – wieder ist Leinenzwang für Hunde in Berlin. »Tollwut in Ostberlin«, so steht es ganz sachlich – und ohne politische Ironie – in den Zeitungen. Hoffentlich, hört man die Spaziergänger, kommt nicht der Maulkorbzwang dazu. Die Berliner sind Hundenarren, und an die Kette gelegt zu werden oder gar einen Maulkorb tragen zu müssen, das mögen sie durchaus nicht – nicht einmal bei ihren Hunden.
Die Schlittschuhläufer auf dem Eis und die Spaziergänger rund um den kleinen See passen zu der kargen Landschaft. Die Kleidung ist vorwiegend schwarz, braun, grau, keine Garmisch-Eleganz, nur manchmal ein knalliges Grün-Rot-Blau: Schal, Mütze, Handschuhe eines jungen Mädchens, eines Kindes. Und doch liegt über dem Bild diese eigene kühl-sparsame Anmut, die einmal preußisch hieß. Weit ausgreifend fliegt ein junger Mann hinaus auf die Mitte der Eisfläche. Es kümmert ihn nicht, daß die harte Oberfläche des Wassers eine zerbrechliche Basis ist, unter der unbekannte Gefahren schlafen mögen. Es kümmert ihn nicht, daß das Eis schon morgen verschwunden sein kann. Er hat es gelernt, auch die kleinste Chance zu nutzen, das geringe, unsichere Glück des Augenblicks ganz zu genießen – er ist ein Kind dieser Zeit, ein Kind dieser Stadt.
Gestern abend war der »rush«, die große Bewegung einer Großstadt nach Geschäfts- und Fabrikschluß, ein Tanz auf dem Glatteis. Regen auf Schnee, dann Frost, das kann nicht gutgehen. Die Autobusse blieben stecken, die Personenwagen tasteten sich mit Eisblumen an den Fenstern über spiegelnde Kreuzungen. Fußgänger schlitterten, strauchelten, schwankten auf den Gehsteigen wie Betrunkene. Soweit ich selbst auf meinem Heimweg sah, nahmen die Berliner das alles mit Humor. Sie zeigten viel Anpassungsfähigkeit an die neue Straßenlage. »Is doch nischt Neuet für uns«, sagte einer und sprang auf die Straßenbahn, das einzige noch sichere Fahrzeug, weil es auf Schienen läuft. »Berlin is nu schon so lange jlatt und einjefrorn . . .« »Höchste Zeit, daß’t mal wieda taut«, murmelte die Schaffnerin und zog die Leine.
Die landschaftlichen Schönheiten von Rio, Neapel, Hawai werden oft beschrieben, besungen, gepriesen. Hat nicht jeder einmal davon geträumt, unter Palmen zu wandeln, an weißen Küsten zu weilen und südlichen Meeren, majestätische Berge zu erklimmen?
Aber warum eigentlich in die Ferne schweifen, denn das Schöne liegt so nah! Wir übersehen es nur. Gestern lag rosa-goldene Wintersonne auf den beschneiten Ästen der Kiefern. Die Havel, an den Rändern leicht vereist, zeigte ein hartes Schieferblau; der Himmel über allem war von einer lichten Heiterkeit, die es nur hier gibt in unseren mäßigen Zonen, und auch hier nur ein-, zweimal im Jahre. Zwischen den rotbraunen Stämmen der hohen, einzeln ragenden Föhren verdämmerte bald nach Mittag der Horizont im duftigsten, sanftesten Violett. Die hartgefrorenen bambusgelben Schilfhalme mit ihren dunkelgrauen Mähnen ragten starr auf zwischen Schneeland und See. Weißestes Weiß, unberührt, hatte alle dunklen Töne der Erde ausgelöscht; um so leuchtender das Rot im Gefieder des Spechts, der hellgrüne Anstrich des Kahnes und das tiefe Grün der Kiefernadeln, deren würziger Duft in der ganz reinen Winterluft zu riechen ist, die einem die Brust weitet und den Kopf klärt.
An warmen Sommertagen sind Havel und Grunewald ein Ameisenhaufen. Gestern zogen nur ein paar Skiläufer zu den wenigen Hügeln, und Kinder mit Schlitten belebten die Wege. Er ist nicht süß und einladend, der Reiz der winterlichen Randlandschaft von Berlin; er erschließt sich nicht gleich, und man darf nasse Füße und kalte Ohren nicht scheuen. Aber steht man dann dort zwischen Schilf