Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor. Thilo Koch
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Eine rote Sonne stand heute früh zwischen den Bäumen der Vorstadtstraße, ein eisig blaß-blauer Himmel über Berlin; die Autos schlingerten vorsichtig über die spiegelnden Straßen; viele Kinder mit Schlitten zogen trappelnd zum Grunewald und rutschten unterwegs schon jede meterhohe Bodenerhebung mit lautem »Bahn frei!« hinunter. Die Eichhörnchen sehen doppelt so dick aus im aufgeplusterten Winterpelz; zum Frühstück kletterte eines aufs Balkongitter und spähte sogar einen ängstlichen Augenblick lang ins Fenster. Die Straßenarbeiter stehen händereibend um ihre glühenden Koksöfen, mit Ohrenschützern und Thermosflasche bewaffnet. Der Nachbar, dessen Wagen immer draußen steht, läßt heute den Motor minutenlang anlaufen; der Auspuff speit große, kreiselnde Dampfwolken aus, und die Windschutzscheibe muß mit Hauchen und Handauflegen erst enteist werden. Vollkommene Windstille, die entlaubten Bäume frosterstarrt; klirrend zerbrechlich sehen ihre Zweige aus und stehen vor dem Himmel wie zierlichste Filigranarbeit. Es ist die reinste Wintersportluft, klar und trocken. Hartes, gesundes Kontinentalklima. Das neue Jahr zeigt sich in bester Form.
WAR DÄDALUS EIN BERLINER?
»Ein neuer Dädalus«, so stand unter einem Foto, das diese Woche in Berliner Zeitungen zu sehen war. Auf dem Bild balanciert ein seltsam in Leder gekleideter Herr auf seinen Schultern einen Flugapparat. Er stürmt auf federnden Ballen einen Abhang hinunter; adlergleiche Schwingen sind ausgebreitet – aber die Unterschrift belehrt uns, daß auch dieser neueste Dädalus bisher immer wieder scheiterte: seine Versuche, sich aus eigener Kraft, vogelgleich, von der Erde zu erheben, blieben Versuche.
In diesem Berliner Dädalus könnte man, wenn man will, eine Allegorie sehen für die Tragikomik der ganzen Stadt Berlin. Es gibt heute zwei- und dreistöckige Flugmaschinen, die Ozeane überqueren, während die Passagiere an einer Bar sich bequem über Fortschritt und Geschäft unterhalten können: unser Berliner Dädalus dagegen möchte sich autark sehen, unabhängig von den Segnungen einer Zivilisation, die für ihn hinter einem Vorhang versteckt ist.
So begann man während der Blockadezeit im Westberliner Stadtgebiet nach Kohle zu schürfen. Ein Miniaturbergwerk inmitten einer Weltstadt, das hätte wohl nie rentabel werden können. Aber die absurde Lage Berlins gebiert absurde Ideen; die Tragik dieser Situation tritt oft recht komisch in Erscheinung. Die Einwohner einer lange belagerten Stadt entwickeln zweifellos seltsame Eigenschaften.
Es ist für normale Leute von draußen manchmal schwierig, sich mit den Belagerten zu verständigen. Soll man über deren Komplexe sich amüsieren oder ärgern? Der an die enge Erde gefesselte Mensch verfertigt aus Schrauben und Schnallen, Stangen und Hebeln eine zerbrechliche Maschine, mit der er ins Weite, Freie, Offene zu entfliehen hofft. Es gelingt ihm nicht, immer und immer wieder nicht – er bastelt trotzdem weiter. Wir wollen hoffen, daß wir mindestens so lange noch herzhaft lachen können über unseren Dädalus-Komplex, bis wir ihn nicht mehr nötig haben.
DER ROMAN BERLIN
In einer schweizerischen Zeitung las ich einen Artikel über Berlin. Der wohlmeinende Autor schrieb: Berlin – das ist ein Fortsetzungsroman mit zu vielen Fortsetzungen. Er will mit dieser hübschen Formulierung wohl sagen, die merkwürdige Sonderstellung Berlins nach dem Kriege sei ein zu altes, abgedroschenes Thema, werde allmählich langweilig für den Betrachter von draußen.
Wenn der Schweizer Journalist recht hätte, wäre es das beste, man stellte den Fortsetzungsabdruck ein, man schriebe diesen Roman »Berlin« nicht weiter. Das liegt aber nicht in unserer Macht; denn diesen Roman schreibt die große Politik, und die ehemaligen Alliierten sind seine Verleger. Die andere Möglichkeit wäre, man macht die kommenden Fortsetzungen wieder interessanter, wenn denn schon der weitere Abdruck nicht unterlassen werden kann. Aber was heißt hier interessant! Von Sensationen wie der Blockade stand genug in dem Roman »Berlin«. Angenehme Sensationen aber, scheint es, hat dieses seltsame Buch nicht zu bieten, von einem happy-end ganz zu schweigen, wenigstens vorläufig.
Wie wäre es also, wenn man die Vorstellung, Berlin sei ein Roman, ganz aufgäbe? Wenn man es als ein Stück Wirklichkeit unserer Welt nähme? Als einen Modellfall, ein Stück, wo im kleinen die zwangsläufigen Folgen der gegenwärtigen Machtkonstellation zu überblicken sind, nicht aber als eine Sage, ein nicht mehr spannendes Buch, das man aus der Hand legen kann? Wir wünschten uns, daß alles, was wir aus Berlin heraus sagen, verstanden werde als Nachricht von einem Geschehen, das alle betrifft, auch wenn das nicht sofort spürbar wird.
»Brücke der Einheit« steht in großen, schmutzig-weißen Buchstaben auf einem eisernen Querträger der grau-schwarzen Glienicker Brücke, die über die Havel hinweg den südwestlichsten Zipfel von Berlin mit Potsdam verbindet. Verbindet? »Au milieu du pont vous quittez le secteur américain«; »You are leaving the American sector in the middle of the bridge«; dann dasselbe in kyrillischen Buchstaben und klein darunter deutsch: »Auf der Mitte der Brücke verlassen Sie Westberlin«. Neben der rot-weißen Barriere steht der Westberliner Schupo. Aus der hölzernen Wachbaracke lehnt ziviler ein Zollbeamter in grasgrünem Rock. Ein Dutzend Autos parken auf der Königstraße, deren südlicher Bürgersteig schon sowjetische Zone ist. Vespas knattern, und drei blasse Jungen auf neuen Fahrrädern fragen den Zollbeamten, ob sie mal rüberfahren können. »Müßt ihr doch wissen, Jungs, Westberliner können nur mit Passierschein in die Zone.« »Den kricht ja keena!« »Eben!« sagt der Beamte. Die Jungen schieben ihre bewimpelten Räder zur Pfaueninsel-Chaussee, gehen am Jungfernsee entlang, rechts der schönste Park von Berlin, der Schloßpark von Klein-Glienicke, angelegt unter Humboldt, mit dem Schlößchen, an dem Schinkel gebaut hat; links das klarblaue Wasser des Sees, gegenüber Sakrow.
Jetzt kommt ein Vater mit zwei kleinen Kindern von drüben, Spaziergänger. »Lassen sie heute durch?« wird er gefragt. »Nich alle. Wie se jrade Lust haben.« Er berlinert genauso, der Mann von drüben, aus Potsdam, wie die Westberliner, die ihn fragen. Sie sehen’s nicht gern, die Vopos am anderen Schlagbaum, daß jemand nach Westberlin hinüberspaziert. Aber viele kommen doch, zumeist mit Rädern, Jugendliche vor allem.
Wochentags fahren sie einkaufen, sonntags gucken. Es ist kein reines Vergnügen für sie; man kennt sie heraus mit ihren zerknitterten Anzügen, schlechten Schuhen, den weiten Hosen und eckigen Schultern; verstohlen sieht man ihnen nach; mag’s auch mitleidig sein – sie fühlen sich fremd im eigenen Land, isoliert, wunderlich, ausgeschlossen.
Ein böser Witz: »Brücke der Einheit«. Aber das genau ist ihr Sprachgebrauch. Sie »kämpfen für den Frieden«, die Männer in den olivgrünen Uniformen und Tellermützen dort drüben am anderen Ende der »Einheitsbrücke«. Die rote Fahne am Brückenausgang drüben ist ausgeblichen. Symbolisiert ja auch schon zehn Jahre diese Art von »Einheit«.
Ist Berlin noch geistiges Zentrum? Mit dieser Fragestellung und Infragestellung beschäftigte sich eine öffentliche Diskussion in unserer Stadt. Das ist gut so. Man macht sich nicht gern etwas vor in Berlin. Niemand kann ja auch übersehen, daß wir an geistiger Blutarmut leiden.
Es ist kein Wunder.
1928 schrieb Gottfried Benn seinen Essay »Saison« und dazu: »– das war Berlin, aufblühend, halb Chicago und halb Paris, korrupt und faszinierend.« Damit kennzeichnet er die berühmten zwanziger Jahre mit »Romanischem Café« und Siemens-Aufschwung, Hotel Excelsior und dem Kabarett »Katakombe«.
Fünf Jahre später begann die Flucht oder Ausschaltung der Juden; Berlin verlor eines seiner Lebenselemente, einen seiner wesentlichen Charakterzüge. Dann kam Krieg und sogenannte Evakuierung. Wieder ging auch viel Intelligenz davon. Und schließlich kam »45« – »Finale Berlin«.
Nun, wir wissen inzwischen, daß