Abriss der Psychoanalyse. Sigmund Freud
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Das erste Organ, das als erogene Zone auftritt und einen libidinösen Anspruch an die Seele stellt, ist von der Geburt an der Mund. Alle psychische Tätigkeit ist zunächst darauf eingestellt, dem Bedürfnis dieser Zone Befriedigung zu schaffen. Diese dient natürlich in erster Linie der Selbsterhaltung durch Ernährung, aber man darf Physiologie nicht mit Psychologie verwechseln. Frühzeitig zeigt sich im hartnäckig festgehaltenen Lutschen des Kindes ein Befriedigungsbedürfnis, das – obwohl von der Nahrungsaufnahme ausgehend und von ihr angeregt – doch unabhängig von Ernährung nach Lustgewinn strebt und darum sexuell genannt werden darf und soll.
Schon während dieser oralen Phase treten mit Erscheinen der Zähne sadistische Impulse isoliert auf. In viel größerem Umfang in der zweiten Phase, die wir die sadistischanale heißen, weil hier die Befriedigung in der Aggression und in der Funktion der Exkretion gesucht wird. Wir begründen das Recht, die aggressiven Strebungen unter der Libido anzuführen, auf die Auffassung, daß der Sadismus eine Triebmischung von rein libidinösen mit rein destruktiven Strebungen ist, eine Mischung, die von da an nicht aufhören wird 5 .
Die dritte ist die sogenannte phallische Phase, die, gleichsam als Vorläufer, der Endgestaltung des Sexuallebens bereits recht ähnlich ist. Es ist bemerkenswert, daß nicht die Genitalien beider Geschlechter hier eine Rolle spielen, sondern nur das männliche (Phallus). Das weibliche Genitale bleibt lange unbekannt, das Kind huldigt in seinem Versuch, die sexuellen Vorgänge zu verstehen, der ehrwürdigen Cloakentheorie, die genetisch ihre Berechtigung hat 6 .
Mit und in der phallischen Phase erreicht die frühkindliche Sexualität ihre Höhe und nähert sich dem Untergang. Knabe und Mädchen haben von jetzt an gesonderte Schicksale. Beide haben begonnen, ihre intellektuelle Tätigkeit in den Dienst der Sexualforschung zu stellen, beide gehen von der Voraussetzung des Allgemeinvorkommens des Penis aus. Aber jetzt scheiden sich die Wege der Geschlechter. Der Knabe tritt in die Ödipusphase ein, er beginnt die manuelle Betätigung am Penis mit gleichzeitigen Phantasien von irgendeiner sexuellen Betätigung desselben an der Mutter, bis er durch Zusammenwirkung einer Kastrationsdrohung und dem Anblick der weiblichen Penislosigkeit das größte Trauma seines Lebens erfährt, das die Latenzzeit mit allen ihren Folgen einleitet. Das Mädchen erlebt nach vergeblichem Versuch, es dem Knaben gleichzutun, die Erkenntnis ihres Penismangels oder besser ihrer Klitorisminderwertigkeit mit dauernden Folgen für die Charakterentwicklung; infolge dieser ersten Enttäuschung in der Rivalität häufig mit erster Abwendung vom Sexualleben überhaupt.
Es wäre mißverständlich, zu glauben, daß diese drei Phasen einander glatt ablösen; die eine kommt zur anderen hinzu, sie überlagern einander, bestehen nebeneinander. In den frühen Phasen gehen die einzelnen Partialtriebe unabhängig voneinander auf Lusterwerb aus, in der phallischen Phase beginnen die Anfänge einer Organisation, die die anderen Strebungen dem Primat der Genitalien unterordnet und den Beginn der Einordnung des allgemeinen Luststrebens in die Sexualfunktion bedeutet. Die volle Organisation wird erst durch die Pubertät in einer vierten, genitalen, Phase erreicht. Dann hat sich ein Zustand hergestellt, in dem 1. manche früheren Libidobesetzungen erhalten geblieben sind, 2. andere in die Sexualfunktion aufgenommen werden als vorbereitende, unterstützende Akte, deren Befriedigung die sogenannte Vorlust ergibt, 3. andere Strebungen von der Organisation ausgeschlossen werden, entweder überhaupt unterdrückt (verdrängt) werden oder eine andere Verwendung im Ich erfahren, Charakterzüge bilden, Sublimierungen mit Zielverschiebungen erleiden.
Dieser Prozeß vollzieht sich nicht immer tadellos. Die Hemmungen in seiner Entwicklung geben sich als die mannigfachen Störungen des Sexuallebens kund. Es sind dann Fixierungen der Libido an Zustände früherer Phasen vorhanden, deren vom normalen Sexualziel unabhängige Strebung als Perversion bezeichnet wird. Eine solche Entwicklungshemmung ist z. B. die Homosexualität, wenn sie manifest ist. Die Analyse weist nach, daß eine homosexuelle Objektbindung in allen Fällen vorhanden war und in den meisten auch latent erhalten geblieben ist. Die Verhältnisse werden dadurch kompliziert, daß in der Regel die zur Herstellung des normalen Ausgangs erforderten Vorgänge sich nicht etwa vollziehen oder ausbleiben, sondern daß sie sich partiell vollziehen, so daß die Endgestaltung von diesen quantitativen Relationen abhängig bleibt. Die genitale Organisation ist dann zwar erreicht, aber geschwächt um die Anteile der Libido, die sie nicht mitgemacht haben und an prägenitale Objekte und Ziele fixiert geblieben sind. Diese Schwächung zeigt sich in der Neigung der Libido, im Falle von genitaler Nichtbefriedigung oder realer Schwierigkeiten in die früheren prägenitalen Besetzungen zurückzukehren (Regression).
Während des Studiums der Sexualfünktionen konnten wir eine erste, vorläufige Überzeugung, richtiger gesagt eine Ahnung von zwei Einsichten erwerben, die sich später durch das ganze Gebiet als wichtig erweisen werden. Erstens, daß die normalen und abnormen Erscheinungen, die wir beobachten, d. h. die Phänomenologie, eine Beschreibung vom Gesichtspunkt der Dynamik und Ökonomik (in unserem Falle der quantitativen Verteilung der Libido) erfordern; und zweitens, daß die Ätiologie der Störungen, die wir studieren, in der Entwicklungsgeschichte, also in der Frühzeit des Individuums, zu finden ist.
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