Der Librettist. Niklas Rådström
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Manchmal denke ich an Giacomos Flucht aus dem Gefängnis, in dem er sechzehn Monate saß, fast doppelt so lang, wie ein Kind im Mutterleib. Sie hatten ihn wegen Unzucht, Betrugs, Glücksspiels und Spielschulden eingesperrt, aber vor allem wegen Gotteslästerung und schwarzer Magie. Mein Freund Giacomo Casanova, Venezianer wie ich, geweihter Priester wie ich und ebenso lebenshungrig. Man hatte ihn als Mann ohne Tugenden eingesperrt. Und in der Tat hat er sich selbst den meisten seiner Tugenden beraubt, indem er sein Leben lang Bestätigung, Befriedigung, Genuss und die Macht über den Augenblick gesucht hat. Auf der Jagd nach diesen Dingen verlor er alle Tugenden außer einer: die Lebenslust. Auch für mich war diese Tugend stets die wichtigste.
In einem Loch ohne Tageslicht, so niedrig, dass er nicht aufrecht stehen konnte, eng und unerträglich heiß, wenn tags die Sonne auf das Bleidach brannte, sollte er Verbrechen sühnen, von denen er nichts wusste. Sein Verbrechen war, dass er gelebt hatte, so intensiv wie möglich, skrupellos und ohne Scham. Monatelang hatte er an einem Fluchtweg aus dem Gefängnis gearbeitet und war fast fertig mit den Vorbereitungen, als er plötzlich in eine andere Zelle verlegt wurde. Er brachte einen wohlwollenden Wärter dazu, ihm Bücher zu besorgen und geheime Nachrichten an den Gefangenen in der Zelle über ihm weiterzuleiten, einen Mönch adeliger Herkunft, dessen Charakter von Dummheit, Undankbarkeit und Eitelkeit geprägt war, wie er bald herausfand. Nichtsdestotrotz war er auf die Hilfe des Mönches angewiesen, um zu fliehen, und es gelang ihm irgendwie, dass dieser alle in den Briefen geschmuggelten Instruktionen ausführte. Die Monate des Ausharrens in der Flaute, die Kälte der Nacht und die Hitze des Tages, während draußen das Leben weiterging. Eines Nachts bebte seine Zelle, die Deckenbalken senkten sich, Putz rieselte herab – es waren die Ausläufer jenes Erdbebens, das zur selben Stunde Hunderte von Meilen entfernt Lissabon zerstörte. Bald darauf, in einer sternenklaren Nacht, gelang es ihnen, einen Durchschlupf zu öffnen. Endlich, Ausbruch, Flucht, Wiedergeburt! Mit einem Seil aus zerrissenen Laken und Kleidern wie eine Nabelschnur um den Bauch gebunden, zwängte sich Giacomo aus den Bleikammern des Dogen, hinaus unter den Sternenhimmel. Er muss sich gefühlt haben wie Vergil und Dante, als sie der Hölle entstiegen und unter einem klaren Sternenhimmel am Fuß des Läuterungsberges standen. Ermattet lag er auf dem von der Feuchtigkeit der Lagune rutschigen Bleidach und sah hinauf ins endlose Universum. Mein Gott! Heiliger, allmächtiger Gott, so ist das Leben, und so sollte auch der Tod sein! Geburt und Wiedergeburt. In die Freiheit hinaus, wo Versöhnung und Zuversicht möglich sind, wo das Dasein in unseren Händen liegt. Dieses Gefühl habe ich mein Leben lang gesucht. Die Liebe hat es mir gegeben und die Musik hat es mir wiedererschaffen.
Giacomo. Ich sehe ihn, wie er dort auf dem Dach liegt, verschwitzt, keuchend, auf dem Rücken. Was er in diesem Moment gefühlt haben muss, hat mir die Musik beschrieben. Es heißt, Giacomo sei vor Erschöpfung dort eingeschlafen, wie ein Kind, dessen glückliche Träume freies Spiel mit seinen Sinnen haben. Als er schließlich wach wird, weiß er zuerst nicht, wo er sich befindet, bis ihm bewusst wird, dass er entkommen ist und unter freiem Himmel liegt. So stelle ich mir den Tod vor, so stelle ich mir die Geburt vor. Dort liegt er, Giacomo, den Sternen so nah, dass er sie fast greifen kann, und über ihm wölbt sich das Universum. Doch erst einmal muss er vom Dach herunterkommen, über Wände, die steil in gepflasterte Höfe und schlammige Kanäle abfallen. Aber in diesem Moment zählt nichts als die Freiheit, der Himmel und die Stille. Glück – welch ein Gefühl, welche Möglichkeiten.
3.
Viele Jahre lang fristete ich in der neuen Heimat meine Tage ohne die Bereicherung der Musik. Obgleich ich nicht ganz auf die allumfassende Kraft der Musik verzichten musste. Wie bereits berichtet, habe ich sie in der Dichtung wiedergefunden, und auch die Natur hat mich zeitweilig wie eine Mutter in ihren Armen gewiegt und mit der ozeanischen Fülle ihres Reichtums überschüttet. Vor meiner zweiten Periode in New York lebte ich mit meiner Familie fast ein Jahrzehnt in einer pastoralen Idylle am Susquehanna River. Der Ort lag zehn Meilen westlich von Philadelphia und hieß Sunbury. Auch wenn die Macht der Musik, die uns die Kultur gegeben hat, sich hier auf bescheidene Ansätze in Form von Kirchenliedern, Volksweisen und Tänzen beschränkt, so ist die Natur umso überwältigender. Ich wünschte, ich könnte von mir sagen, dass ich ein mutiger Mensch bin, der sein Glück aus seelischer Stärke und Eroberungsdrang schöpft. Dem ist nicht so. Nicht der Mut hat mich um den halben Globus getrieben, sondern Rastlosigkeit und eine unselige Neugier, verstärkt durch Missgeschicke und Zwänge. Aber keiner, der Sunbury gesehen hat, würde sagen, dass mich dies hier zum Verlierer gemacht hat. Auf einem von Farnen, Büschen und Bäumen gesäumten Weg näherte man sich unserem neuen Domizil am Fuß der Berge, die fast so mächtig wie die Alpen erschienen, die ich bei meinen Reisen und Fluchten durch die Alte Welt unzählige Male überquert hatte. Durch Wälder aus Lorbeerbäumen, deren Blütenpracht im Sommer jeden botanischen Garten übertrafen, vorbei an rauschenden Bächen, klaren Wasserfällen, sanften Hügeln und steilen Klippen, Marmorfelsen und grünen Hainen, kam man durch zwei tiefe Täler zu dem Ort, der viele Jahre unser Heim war. Forellen glitzerten im klaren Wasser des breiten Flusses, und in den Wäldern lebten nicht nur Hirsche, Rebhühner, Fasanen und anderes Wild, sondern auch Wölfe, Bären und Klapperschlangen – um uns zu mahnen, dass auch der schönste Lustgarten tödliche Gefahren bergen kann.
Die Familie meiner Frau lebte dasselbe Nomadenleben, zu dem das Schicksal mich schon in jungen Jahren gezwungen hatte, aber obwohl sie über die ganze Welt zerstreut waren, gab es unter ihnen einen Zusammenhalt, der uns schon manches Mal aus den Schwierigkeiten gerettet hatte, in die uns meine Impulsivität und nicht immer wohl überlegten Geschäftsideen gebracht hatten, wie ich zugeben muss. In Sunbury jedoch hatten einige ihrer engsten Verwandten ein festes Heim eingerichtet. Hier wohnten mein Schwiegervater John Grahl, mein Schwager Peter und meine Schwägerin Louisa. Louisas Mann, der Arzt Charles Niccolini, hatte uns mit den Zukunftsaussichten dieses ländlichen Idylls aus der wachsenden Großstadt herausgelockt. Abgesehen davon, dass mein Auskommen in New York immer schwieriger wurde, schien der Umzug einen Traum zu erfüllen, den ich lange gehegt hatte. Nachdem ich mein ganzes Leben in den größten Städten der Welt verbracht hatte und mir die Pforten meines Heimatlandes verschlossen waren, wollte ich meinen Lebensabend gern an einem ruhigen Ort auf dem Lande verbringen. Also beschloss ich, meine Tage in dem schönen Flusstal zu beenden und schließlich im Dunkel des Grabes mit seiner fruchtbaren Erde eins zu werden. Es kam anders, aber unseren Träumen können wir keine Vorwürfe machen, wenn sie nicht in Erfüllung gehen.
Unser Aufenthalt in Sunbury war viele Jahre lang glücklich. Ich hatte mehrere Tausend Dollar für unser altes Heim bekommen, und für den Anfang mietete ich uns eine kleinere Hütte am Flussufer. Den Rest investierte ich in verschiedene Handelswaren, auf Anraten meines Schwagers vor allem Medikamente, die er über seine Arztpraxis verkaufen konnte. Dummerweise mangelte es trotz regen Handels in der Gegend an flüssigen Mitteln. Mein Schwager schlug vor, ich solle den Leuten Kredit geben, und prompt begann der Verkauf zu florieren. Aber während sich die Regale leerten, blieb die Kasse leer, und am Ende hatte ich weder Waren noch die nötigen Mittel, neue zu kaufen. Stattdessen hockte ich auf einem Bündel Schuldbriefe, die ich erfolglos in Philadelphia zu veräußern versuchte. Wer wollte in dieser Stadt, die lange die größte unseres Kontinents war, schon unsichere Forderungen auf dem Land übernehmen? Hätte ich selbst das getan? Auf diese Frage kann ich keine ehrliche Antwort geben. Berechnung und Misstrauen haben nie meine Entscheidungen bestimmt, sondern Neugier und bisweilen auch Eitelkeit und Gutgläubigkeit, wie ich gestehe. Meine lange Lebenserfahrung hätte mir sagen sollen, dass auf meine Mitmenschen kein Verlass war, aber wenn das Leben je versucht hat, mir derartiges beizubringen, habe ich wohl nicht zugehört.
Nichts wünschen