DIE DODERER-GASSE. Nadja Bucher

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DIE DODERER-GASSE - Nadja Bucher

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komm her, mein süßer Schatz«, sagte die Mutter und hob Marie hoch, küsste sie und legte sie an ihre Schulter. In dieser Position war es mir möglich, den Raum besser zu überblicken. Seine Reize waren bescheiden. Das Gitterbett stand an der Wand neben der Tür. Ein dunkelbrauner Einbaukasten zog sich über die Längsseite des Zimmers. Gegenüber der Tür war ein doppelflügeliges Fenster, davor hing ein dünner, bodenlanger Vorhang. Braunes Sofa mit Samtbezug und passendem Fauteuil standen über Eck im Raum, ein schmuckloser Esstisch mit Resopalplatte befand sich wie eingeschoben daneben, als hätte man nirgendwo sonst Platz für ihn gefunden. Die Möblierung zeugte weniger von Geschmack als von Zweckmäßigkeit.

      Die Mutter stellte sich vor das Fenster und wippte sachte, gleichzeitig flüsterte sie ihrer Tochter Nettigkeiten zu. Ich erhaschte einen Blick ins Freie, der mich mit tiefstem Grauen erfüllte. Seitlich und gegenüber spannten sich achtstöckige Häuserfronten auf, verstellten mir Fensterreihen in geometrischer Gleichmäßigkeit jegliche Sicht auf Horizont. Straßenverläufe, wie ich sie einst kannte, existierten hier nicht. Lediglich Gehwege zogen sich rechtwinkelig über einen begrünten Hof, der zu einer Seite hin offen war, in eine Wiese auslief, die an ein Wäldchen grenzte, welches erst unlängst gepflanzt worden sein dürfte. Die Stämmchen erweckten einen schockierend mickrigen Eindruck. Weiter entfernt taten sich Agrarflächen auf.

      An welch vergessenen Flecken am Ende der Welt war ich geraten? In eine menschenansammelnde Riesenburg, wo sich idente Fenster an idente Hauszeilen reihten, Stiegen genannt, wie Schilder neben den Eingangstoren verrieten. Ich konnte die fortlaufende Bezifferung ablesen. Kasernen waren nach ähnlichem Baukasten-Stil entworfen und mir ähnlich verhasst. Wie sollte sich ein denkender, fühlender Mensch hier zurechtfinden?

      Marie begann zu weinen, mir verschwamm die Aussicht. Sogleich schob sich wieder der Busen samt Brustwarze ins Bild. Marie verweigerte das Nahrungsangebot. Die Mutter hatte sich vom Fenster abgewandt und setzte ihren Stillversuch auf dem Sofa fort. Marie steigerte ihren Ausdruck des Missbehagens. Für mich waren ihre Laute in angeschlagener Lautstärke ein an das Unerträgliche heranreichender Schmerz. Kein Gedanke war bei diesem Krach zu fassen. Maries Schreie, ihre Tränen, lösten das Zimmer, die Mutter, die Welt rundum auf. Sie schrie mit solcher Intensität, ich merkte, wie sich der Innendruck ihres Kopfs erhöhte. Deutlich spürte ich ihr Strampeln; wie sich ihr Körper verkrampfte und durchbog. Immense Kraft steckte in diesem kleinen Menschen. Die Mutter trug sie aus dem Zimmer, redete beruhigend auf sie ein, allein Marie setzte ihr Crescendo fort. Aus Maries unter Tränen stehenden Augen sah ich einen Mann näher kommen und erkor ihn sofort zu ihrem Vater aus. Durch vibrierende Trommelfelle hörte ich seine Ratschläge. Er nahm das Kind nicht in den Arm, was von der Mutter zwar angeboten, aber von ihm abgewehrt wurde. Sie solle den Kindsbauch streicheln, bemerkte er. Die Mutter tat, wie ihr geheißen, klappte zudem das Kind, welches sie an Nacken und Beinen hielt, zusammen und wieder auseinander. Sanft, vorsichtig und wiederholt, bis die Gärgase, welche sich offensichtlich in Maries Körperinnerem angesammelt hatten, lautstark entwichen.

      Für mich war diese Episode gleichrangig mit der Brustwarzenfütterung eine untragbar gênante, wie man sich vorstellen kann. Selbstverständlich konnte ich alle Schuld von mir weisen, dennoch war ich von Maries körperlichen Unzulänglichkeiten peinlich berührt. Es war nicht nur Ekel, der sich zwischen mich und sie schob, sondern auch Furcht, diesen und ähnlichen Widrigkeiten für lange Zeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Bestialischer Gestank verbreitete sich um das Kind, folglich auch um mich, der ich gewohnt war, im frischen Duft von Eau de Lavande zu wandeln. Reflexartig schnappte ich nach Luft, was jedoch folgenlos blieb. Marie atmete unbeeindruckt weiter. Ihre olfaktorischen, wie alle übrigen Sinne, waren noch unvollständig ausgebildet.

      Die Mutter trug sie ins Bad, legte sie auf eine Wickeldecke, die über die Waschmaschine gebreitet war. Während sie den Blick nicht von ihrer Tochter nahm, ließ sie Wasser in einen pastellfarbenen Trog ein. Sobald Maries Windel gelockert wurde, steigerte sich die Duftnote. Ich konnte diesem Treiben nichts entgegnen, außer einen Modus operandi finden, der in einer gewissen integren Absonderung lag, um die Angelegenheit halbwegs würdevoll zu überstehen. Marie wurde von der Mutter auf den Bauch gedreht und behutsam in die Wanne abgesenkt. Dabei achtete die Mutter darauf, Maries Kopf oberhalb des Badewassers, ihren Körper davon bedeckt zu halten. Ich spürte wohlige Wärme, aber auf seltsam indirekte Art. Es war nicht mein eigener Körper, der ins Wasser getaucht wurde, ich befand mich lediglich in einem solchen. Was ich folglich wahrnahm, war nicht die Temperatur des Badewassers, sondern Maries innere Körperwärme, oder präziser, ihre innere Wonne. Ich spürte sozusagen ihr Wohlgefühl, was ihre Gluckser und Quietscher unmissverständlich artikulierten.

      Dieser Erfahrung leitete ich einen Konnex zwischen Marie und mir ab. Ihr Befinden musste sich reziprok auf meine Gemütsverfassung auswirken. Denn hatte ich mich während ihrer Schreiattacke elend gefühlt, erfasste mich nun beste Laune. Der Weg aus den vollen Windeln, befürchtete ich sofort, würde sich als kein kurzweiliger gestalten, sondern zeichnete sich als zähe, in viele kleine und kleinste Teilschritte untergliederte Langstrecke ab, deren erste Etappe es wäre, generelles Vorhandensein sowie Reichweite meiner Einflussnahme abzuschätzen.

      MARIE LAG RÜCKLINGS IM GITTERBETT, zog die Beinchen an, streckte die Füße vors Gesicht, amüsierte sich ungemein. Mir bot dieses Treiben eingehende Betrachtung ihrer beeindruckend kleinen Zehen, die zwar erstaunlich waren, jedoch beschränktes Vergnügen für mich bargen. Mein Empfinden stand konträr zu Maries, deren Begeisterung über gebotene Sensation keine Grenzen und vor allem keine Abnützung kannte. Immer wieder brachte sie ihre Füße auf Augenhöhe, was sie dabei erkannte oder zu erkennen glaubte, entzog sich meiner Kenntnis, sie stieß jedenfalls herzhafte Freudenschreie aus. Zur Steigerung ihres Amüsements ergriff sie beidhändig ihre Beinenden und steckte sie in ihren Mund. Zweifelsohne eine imposante Leistung, der sich Marie auch zur Gänze bewusst war, honorierte sie sie mit gebührendem Jauchzen und zwar bei jedem Gelingen der Übung. Ich hatte dafür Verständnis, ja lobte ihre gesunde Einstellung, die eigenen Taten gehörig anzuerkennen und wertzuschätzen, allerdings konnte ich eine ausgedehnte, mich beinahe erdrückende und geistig lähmende Langeweile nicht leugnen. Zumal mir die restlichen sich bietenden Stimuli wenig Ablenkung schenkten. Als da waren die bereits geschilderten Komponenten Deckenlampe, Blumentapete, weißer Plafond.

      Dass die Vormittagssonne durchs Fenster fiel und sich schräg ins Zimmer legte, die über der Resopalplatte des Tischs schwebenden Staubflankerl nahezu malerisch beschien, änderte nichts an meinen sich im Kreis drehenden Gedanken, die danach forschten, wie der inneren und äußeren Stagnation beizukommen wäre. Die Schnelligkeit, mit der sich Sonnenstrahlen und Schattenperioden abwechselten, sowie die Geschwindigkeit, mit der majestätische Wolkenformationen am knallblauen Himmel vorüberzogen, kündigten mir herandräuenden Frühling an. Lieblicher Vogelgesang schob sich durch den Spalt des gekippten Fensters ins Zimmer hinein. Ein Hauch frischer Luft bauschte den dünnen Vorhang auf, ließ ihn träge tanzen, verhalf mir zu neuen Gedanken. Wenn ich aufgrund von Licht- und Wetterverhältnissen davon ausging, dass es Mitte April war, und mich mein Zeitgefühl nicht vollends trog, obwohl es wie erwähnt nicht exakt arbeitete, sondern dem schwammigen Rauschzustand eines Morphinisten glich, dem manch kurzer Traum wie die Ewigkeit und Gegenwärtiges wie tiefer Schlaf anmutet, dann betrachtete ich die Welt bereits seit einigen Monaten durch Maries Augen. Dies durchzuckte mich wie der Sonnenstrahl, der Marie auf den Kopf schien, mich blendete und sie veranlasste, die Beinchen kurzzeitig ihrer Aufmerksamkeit zu entlassen und das Gesicht dem Licht zuzuwenden. Sie schloss ihre Augen, ich hörte sie quietschen, konnte jedoch nicht eruieren, ob aus Behagen, Unlust oder Verblüffung. Da ihre Stimmung weitgehend ausgeglichen blieb, schätzte ich den Sinneseindruck als nicht sehr gravierend ein. Als sie ihre Augen wieder öffnete, schaute ich erneut an die Zimmerdecke und sah ihre Füße.

      Da entsprang mir eine großartige Überlegung. Was, wenn mein Wille direkten Einfluss auf das Kind hatte? Wenn ich Marie dazu brächte, meinen Anweisungen Folge zu leisten? Wenn mir dies gelänge, erhielte ich durch sie neue Handlungsfähigkeit. Die Idee enthusiasmierte mich, brachte mich schwärmerischen Zukunftsvisionen nahe. Wäre mir Marie willfährig,

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