Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen. Эдгар Аллан По
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Edgar Allan Poe
Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen
Reclam
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961806-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-978-3-15-020608-9
Ein Manuskript per Flaschenpost
Qui n’a plus qu’un moment à vivre
N’a plus rien à dissimuler.
Wer nur noch einen Moment zu leben hat, hat nichts mehr zu verbergen.
QUINAULT, Atys1
Zu meinem Vaterland und meiner Familie habe ich wenig zu sagen. Ungerechtigkeiten und der Lauf der Zeit haben mich aus dem einen vertrieben und der anderen entfremdet. Ererbter Wohlstand gewährte mir eine Ausbildung von nicht gerade üblichem Format, und eine beschauliche Geisteshaltung ermöglichte es mir, die in frühen Studien sehr emsig gespeicherte Fülle von Kenntnissen methodisch zu ordnen. – Vor allem das Studium der deutschen Moralisten bereitete mir großes Vergnügen; nicht aus irgendeiner unbesonnenen Bewunderung deren beredter Verrücktheit heraus, sondern der Leichtigkeit wegen, mit der meine strengen Denkgewohnheiten es mir ermöglichten, die Falschheiten aufzudecken. Oft wurde mir die Trockenheit meines Geistes vorgeworfen; ein Mangel an Vorstellungskraft ist mir als Verbrechen angerechnet worden; und für den Pyrrhonismus2 meiner Betrachtungsweisen war ich allzeit berüchtigt. In der Tat befürchte ich, dass mein Verstand durch einen starken Hang zu den Naturwissenschaften von einem in dieser Zeit sehr üblichen Irrtum angesteckt wurde – ich meine die Angewohnheit, selbst die für einen derartigen Bezug am wenigsten geeigneten Vorkommnisse auf die Gesetze jener Wissenschaften zu beziehen. Im Großen und Ganzen könnte niemand weniger anfällig dagegen sein als ich, von dem ignes fatui3 des Aberglaubens aus den genau abgesteckten Grenzen der Wahrheit herausgeführt zu werden. Ich habe es für angebracht gehalten, so viel vorauszuschicken für den Fall, dass die unglaubliche Geschichte, die ich zu erzählen habe, eher für das Ausschweifen einer rohen Phantasie gehalten wird als für die verlässliche Erfahrung eines Geistes, der Träumereien und Hirngespinsten unzugänglich ist und sie für null und nichtig erklärt.
Nach vielen Jahren des Reisens in der Fremde schiffte ich mich im Jahr 18 . . zu einer Fahrt vom Hafen von Batavia4 auf der reichen, stark bevölkerten Insel Java zu dem Archipel der Sundainseln ein. Ich fuhr als Passagier – ohne weiteren Anlass als eine Art nervöser Unrast, die mich heimsuchte wie eine Furie.
Unser Fahrzeug war ein schönes Schiff von ungefähr vierhundert Tonnen, mit Kupfer verbolzt und in Bombay aus malabrischem Teakholz5 gefertigt. Es war mit Baumwolle und Öl von den Lakkadiven6 beladen. Wir hatten auch Kokosfaser, Jagremelasse, Büffelbutter, Kokosnüsse und einige Kisten Opium an Bord. Die Ladung war ungeschickt verstaut worden, folglich konnte das Fahrzeug leicht kentern.
Mit einem bloßen Hauch von Wind stachen wir in See und standen viele Tage lang vor der Ostküste Javas, ohne dass irgendein anderer Zwischenfall die Eintönigkeit unseres Kurses unterbrochen hätte als die gelegentliche Begegnung mit einigen der kleinen Zweimaster der Küstenschifffahrt des Archipels, zu dem wir unterwegs waren.
Als ich mich eines Abends über die Heckreling lehnte, gewahrte ich im Nordwesten eine sehr eigentümliche einzelne Wolke. Sie war sowohl ihrer Farbe wegen bemerkenswert als auch deshalb, weil sie die erste war, die wir seit unserer Abfahrt von Batavia gesehen hatten. Ich beobachtete sie aufmerksam bis zum Sonnenuntergang, als sie sich ganz plötzlich ost- und westwärts ausbreitete, den Horizont mit einem schmalen Dunststreifen umgürtete und aussah wie ein langer Strich flachen Strandes. Kurz darauf wurde meine Aufmerksamkeit von der dunkelroten Erscheinung des Mondes und der eigenartigen Beschaffenheit des Meeres gefesselt. Letztere war einer raschen Veränderung ausgesetzt, und das Wasser schien ungewöhnlich durchsichtig. Obwohl ich den Grund deutlich sehen konnte, zeigte mir doch das Lot, das ich warf, fünfzehn Faden7 Tiefe an. Die Luft wurde nun unerträglich heiß und war mit spiralförmigem Brodem geladen, ähnlich dem, der von erhitztem Eisen aufsteigt. Als die Nacht hereinbrach, erstarb jeglicher Lufthauch; eine vollkommenere Windstille ist unvorstellbar. Auf der Achterhütte brannte die Flamme einer Kerze ohne die geringste erkennbare Bewegung, und ein langes Haar, das ich zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, hing herab, ohne dass auch nur das leiseste Schwingen zu entdecken war. Da der Kapitän jedoch sagte, er könne kein Anzeichen von Gefahr wahrnehmen, und da wir unweigerlich gegen die Küste trieben, befahl er, die Segel zu reffen und den Anker zu werfen. Es wurde keine Wache aufgestellt, und die Mannschaft, die hauptsächlich aus Malaien bestand, streckte sich gemächlich auf dem Deck aus. Nichts Gutes ahnend, ging ich unter Deck. Tatsächlich war meine Angst vor einem Samum8 allem Anschein nach gerechtfertigt. Ich teilte dem Kapitän meine Befürchtungen mit; er aber schenkte meinen Worten keine Aufmerksamkeit und entfernte sich, ohne mich einer Antwort zu würdigen. Mein Unbehagen hinderte mich jedoch daran zu schlafen, und gegen Mitternacht ging ich auf Deck. – Als ich meinen Fuß auf die oberste Stufe der Kajütentreppe setzte, stutzte ich vor einem lauten, summenden Ton ähnlich jenem, den die schnellen Umdrehungen eines Mühlrades erzeugen, und bevor ich dessen Bedeutung noch ermitteln konnte, spürte ich, wie das Schiff bis ins Innerste erbebte. Im nächsten Augenblick wurde es von einer schäumenden Wildnis, die von vorn nach achtern über uns brauste und vom Vorder- bis zum Hintersteven über die gesamten Decks fegte, auf die Seite geschleudert.
Die außerordentliche Heftigkeit des Sturms erwies sich in großem Maß als die Rettung des Schiffs: Obwohl es ganz voll Wasser gelaufen war, erhob es sich doch, da die Masten über Bord gegangen waren, nach einer Minute beschwerlich aus dem Meer, taumelte eine Weile unter dem ungeheuren Druck des Unwetters und richtete sich schließlich auf.
Durch welches Wunder ich der Vernichtung entkommen war, ist unmöglich zu sagen. Betäubt von dem Wellenschlag, fand ich mich, als ich wieder zu mir kam, eingeklemmt zwischen Achtersteven und Ruder wieder. Unter großen Schwierigkeiten kam ich auf meine Füße zu stehen, schaute benommen umher und war anfangs von der Vorstellung ergriffen, wir befänden uns inmitten der Brecher einer Brandung; so schreckenerregend, jenseits der ungezügeltsten Einbildungskraft war der Strudel gebirgigen und schäumenden Ozeans, der uns umschlang. Nach einer Weile hörte ich die Stimme eines alten Schweden, der sich just in dem Moment, als wir den Hafen verließen, bei uns eingeschifft hatte. Ich schrie ihn aus Leibeskräften an, und er kam sogleich wankend nach achtern. Wir fanden bald heraus, dass wir die einzigen Überlebenden des Unglücks waren. Außer uns waren alle auf Deck über Bord gefegt worden – der Kapitän und die Maate müssen im Schlaf umgekommen sein, denn die Kabinen waren mit Wasser überschwemmt. Ohne Hilfe konnten wir nicht erwarten, viel für die Sicherheit des Schiffes zu tun, und unsere Bemühungen wurden zunächst von der Erwartung, augenblicklich unterzugehen, gelähmt. Unser Ankertau war auf den ersten Hauch des Orkans hin natürlich wie Bindfaden gebrochen, sonst wären wir unverzüglich versenkt worden. Wir lenzten mit entsetzlicher Geschwindigkeit vor der schweren See, und das Wasser schlug wahre Sturzwellen über uns. Die Spanten des Hinterschiffs waren ungemein ramponiert, und in fast jeder Hinsicht hatten wir beträchtlichen Schaden erlitten; aber zu unserer äußersten Freude entdeckten wir, dass die Pumpen unversehrt