Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen. Эдгар Аллан По
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![Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen - Эдгар Аллан По Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen - Эдгар Аллан По Reclam Taschenbuch](/cover_pre912230.jpg)
Nicht ein Wort sprach der Erretter. Aber die Marchesa! Sie wird nun ihr Kind entgegennehmen – sie wird es an ihr Herz drücken – sie wird sich an seine kleine Gestalt klammern und es über und über mit ihren Liebkosungen bedecken. Ach! die Arme eines Anderen haben es von dem Fremden entgegengenommen, die Arme eines Anderen haben es weggenommen und es unbemerkt weit fort in den Palast getragen! Und die Marchesa! Ihre Lippe – ihre schöne Lippe zittert: Tränen sammeln sich in ihren Augen – in jenen Augen, die wie Plinius’ Akanthus »sanft und fast fließend« sind.19 Ja! Tränen sammeln sich in diesen Augen – und siehe! die ganze Frau erschaudert aus voller Seele, und die Statue hat sich belebt! Die Blässe des marmornen Antlitzes, das Schwellen der marmornen Brust und gar die Reinheit der marmornen Füße gewahren wir plötzlich überzogen mit einer Flut unbändigen Karmesins; und ein leichter Schauder lässt ihren zierlichen Leib erbeben wie der sanfte Hauch in Neapel die üppigen Silberlilien im Gras.
Warum sollte die Dame erröten? Auf diese Frage gibt es keine Antwort – außer dass sie, die Zurückgezogenheit ihres eigenen Boudoirs verlassend, es in der treibenden Hast und dem Schrecken eines Mutterherzens versäumt hatte, die winzigen Füße ihren Pantoffeln zu unterjochen, und völlig vergessen, ihren venezianischen Schultern jenes Gewand überzuwerfen, das ihnen gebührt. Welchen anderen, möglichen Grund könnte es für ihr derartiges Erröten gegeben haben? – für das Aufblitzen der wilden, anziehenden Augen? für die ungewöhnliche Erregung des pochenden Busens? – für den krampfhaften Druck der zitternden Hand? – die Hand, die, als Mentoni sich in den Palast wandte, zufällig auf die Hand des Fremden fiel. Welchen Grund könnte es gegeben haben für den leisen – den einzigartig leisen Ton dieser unbedeutenden Worte, die die Dame eilig äußerte, als sie ihm Lebewohl sagte? »Du hast gesiegt«, sagte sie, oder das Murmeln des Wassers täuschte mich, »du hast gesiegt – wir werden uns treffen – eine Stunde nach Sonnenaufgang – so soll es denn sein!«
***
Der Aufruhr hatte sich gelegt, die Lichter im Palast waren erloschen, und der Fremde, den ich nun wiedererkannte, stand allein auf den Steinplatten. Er zitterte vor unfassbarer Erregung, und sein Auge blickte auf der Suche nach einer Gondel umher. Ich konnte nicht anders, als ihm die Dienste meiner eigenen anzubieten; und er willigte in das Anerbieten ein. Nachdem wir an dem Wasserportal ein Ruder bekommen hatten, setzten wir zusammen den Weg zu seinem Wohnsitz fort, während er seine Fassung schnell wiedergewann und von unserer früheren, oberflächlichen Bekanntschaft mit großer, offensichtlicher Herzlichkeit sprach.
Es gibt einige Themen, bei denen es mir Spaß bereitet, auf Einzelheiten einzugehen. Die Person des Fremden – lasst mich ihn, der für die ganze Welt noch ein Fremder war, bei diesem Namen nennen – die Person des Fremden ist eines dieser Themen. Seine Größe mag eher unter als über dem Durchschnitt gelegen haben: wiewohl es Augenblicke heftiger Leidenschaft gab, in denen seine Gestalt sich regelrecht ausdehnte und die Behauptung Lügen strafte. Die leichte, fast schlanke Symmetrie seines Körperbaus versprach mehr von jener bereitwilligen Behändigkeit, die er an der Seufzerbrücke bekundet hatte, als von der herkulischen Kraft, die er, wie man wusste, in gefährlicheren Lagen mühelos aufbrachte. Mit dem Mund und Kinn einer Gottheit – einzigartige, wilde, volle, fließende Augen, deren Schattierungen von reinem Haselnussbraun bis zu intensivem und glänzendem Pechschwarz variierten – und eine Überfülle lockigen schwarzen Haares, unter dem eine Stirn von ungewöhnlicher Breite hin und wieder ganz hell und elfenbeinfarben hervorschimmerte – nannte er Züge sein eigen, wie ich sie klassisch, regelmäßiger noch nie gesehen habe, es sei denn vielleicht die marmornen des Kaisers Commodus20. Jedoch war sein Antlitz nichtsdestoweniger eines von denen, die jedermann zu einer Zeit seines Lebens gesehen hat und danach nie wieder. Es hatte keinen besonderen – es hatte keinen entschieden vorherrschenden Ausdruck, der einem in Erinnerung bleibt; ein Antlitz, das gesehen und sofort vergessen wird – aber vergessen mit dem vagen und nie schwindenden Verlangen, es sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Nicht dass das Wesen einer jeden reißenden Leidenschaft jemals versagte, sein eigenes, klares Abbild auf den Spiegel jenes Gesichtes zu werfen – aber dass der Spiegel, auf Spiegelart, keine Spur der Leidenschaft festhielt, wenn die Leidenschaft gewichen war.
Als ich ihn in der Nacht unseres Abenteuers verließ, ersuchte er mich, so empfand ich, auf sehr dringliche Weise, sehr früh am nächsten Morgen bei ihm vorzusprechen. Mithin fand ich mich kurz nach Sonnenaufgang bei seinem Palazzo ein, einem jener gewaltigen Bauwerke düsteren, jedoch phantastischen Prunks, die sich über den Wassern des Canal Grande in der Nachbarschaft des Rialto emportürmen. Ich wurde ein ausladendes, gewundenes Mosaiktreppenhaus hinauf in ein Gemach geleitet, dessen unvergleichliche Pracht mit einem wahren Funkeln durch die aufgehende Tür barst, das mich blind und schwindlig vor Üppigkeit machte.
Ich wusste, dass mein Bekannter wohlhabend war. Gerüchte hatten seine Besitztümer in Wendungen geschildert, die ich sogar gewagt hatte Wendungen lächerlicher Übertreibung zu nennen. Aber als ich mich umschaute, konnte ich mich nicht dazu bringen zu glauben, dass der Reichtum irgendeines Menschen in Europa die königliche Großartigkeit gewährt haben könne, die hier ringsum glühte und loderte.
Obwohl, wie ich schon sagte, die Sonne aufgegangen war, war der Raum noch festlich beleuchtet. Dieser Umstand sowie ein Hauch von Erschöpfung auf dem Antlitz meines Freundes lassen mich schließen, dass er sich während der ganzen vorangegangenen Nacht nicht zur Ruhe begeben hatte. Die offensichtliche Absicht der Bauweise und der Verzierungen des Gemachs war es gewesen zu blenden und zu verblüffen. Wenig Aufmerksamkeit war auf das Dekorum dessen, wofür der technische Ausdruck Einklang steht, gerichtet worden, wie auch auf die Angemessenheit der Herkunft. Das Auge wanderte von Gegenstand zu Gegenstand und verweilte auf keinem – weder auf den Grotesken der griechischen Maler noch auf den Skulpturen der besten Tage Italiens, noch auf den gewaltigen Schnitzereien des ungebildeten Ägyptens. In jedem Teil des Raumes zitterten üppige Drapierungen zur Schwingung leiser, schwermütiger Musik, deren Ursprung nicht auszumachen war. Die Sinne wurden von gemischten, unharmonischen Düften überwältigt, die von seltsamen, gerollten Weihrauchspendern aufstiegen zusammen mit flimmernden und flackernden Zungen smaragdfarbenen und violetten Feuers. Die Strahlen der jüngst aufgegangenen Sonne ergossen sich über das Ganze durch Fenster, deren jedes aus einer einzigen Scheibe karmesinrot getönten Glases bestand. Wie sie in tausend Widerscheinen auf Vorhängen, die von ihren Leisten wie Katarakte geschmolzenen Silbers flossen, hin und her blitzten, verwoben sich die Strahlen natürlichen Glanzes schließlich flatternd mit dem künstlichen Licht und wälzten sich in gebändigten Massen auf einem Teppich aus kostbarem, fließend anmutendem Stoff von Chili-goldener Farbe.
»Ha! ha! ha! – ha! ha! ha!« – lachte der Eigentümer, als ich den Raum betrat, winkte mich zu einem Sitz und warf sich selbst in voller Länge zurück auf eine Ottomane. »Ich sehe«, sagte er, als er gewahr wurde, dass ich mich nicht sogleich in die Manier einer so einzigartigen Begrüßung fügen konnte, »ich sehe, dass Sie sich über meine Wohnung wundern – über meine Statuen – meine Gemälde – die Originalität meiner Schöpfung von Architektur und Dekoration – völlig trunken, he? von meiner Großartigkeit? Aber vergeben Sie mir, mein lieber Herr (hier nahm seine Stimme einen Ton an, als sei sie die Herzlichkeit selbst), vergeben Sie mir mein unbarmherziges Lachen. Sie schienen so überaus erstaunt. Außerdem sind manche Dinge so vollkommen lustig, dass man lachen oder sterben muss. Lachend zu sterben muss der glorreichste aller glorreichen Tode sein! Sir Thomas More21 – ein sehr feiner Mann war Sir Thomas More – Sir Thomas