Gesammelte Werke. Heinrich Mann

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Gesammelte Werke - Heinrich Mann

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einer scharfen und schneidigen Gesinnung ab und erklärte, daß mit dem alten freisinnigen Schlendrian auch in Netzig von Grund aus aufgeräumt werden müsse.

      „Jetzt kommt eine neue Zeit!“

      Jadassohn und der Bürgermeister hörten still zu, bis er alles herausgesagt hatte; Jadassohns Ohren wurden dabei noch größer. Dann krähte er: „Auch in Netzig gibt es kaisertreue Deutsche!“ Und Diederich noch lauter: „Die aber, die es nicht sind, werden wir uns einmal näher ansehen. Es wird sich zeigen, ob gewissen Familien die Stellung, die sie einnehmen, noch zukommt. Vom alten Buck zu schweigen: wer sind denn seine Leute? Die Söhne verbauert oder verbummelt, ein Schwiegersohn, der Sozialist ist, und die Tochter soll ja –“

      Man sah einander an. Der Bürgermeister kicherte und [pg 134]rötete sich blaß. Vor Vergnügen platzte er aus: „Und die Herren wissen noch gar nicht, daß der Bruder des Herrn Buck pleite ist!“

      Man äußerte lärmende Genugtuung. Der mit den fünf eleganten Töchtern! Der Vorsitzende der „Harmonie“! Aber zu essen, das wußte Diederich, bekamen sie aus der Volksküche. Daraufhin schenkte der Bürgermeister nochmals Schnäpse ein und reichte Zigarren. Er zweifelte plötzlich nicht mehr, daß ein Umschwung bevorstehe. „In anderthalb Jahren sind die Neuwahlen zum Reichstag. Bis dahin werden die Herren arbeiten müssen.“

      Diederich schlug vor: „Betrachten wir drei uns schon jetzt als das engere Wahlkomitee!“

      Jadassohn erklärte es für die erste Notwendigkeit, Fühlung zu nehmen mit dem Herrn Regierungspräsidenten von Wulckow. „Streng vertraulich“, setzte der Bürgermeister hinzu und zwinkerte. Diederich bedauerte, daß die „Netziger Zeitung“, das größte Organ der Stadt, sich im freisinnigen Fahrwasser bewege. „So ein Judenblatt!“ sagte Jadassohn. Wohingegen das regierungstreue Kreisblatt in der Stadt fast ohne Einfluß sei. Aber der alte Klüsing in Gausenfeld lieferte das Papier für beide Blätter. Es schien Diederich nicht unmöglich, durch ihn, der in der „Netziger Zeitung“ Geld hatte, ihre Haltung zu beeinflussen. Er mußte Angst bekommen, sonst das Kreisblatt zu verlieren. „Denn es gibt ja noch eine Papierfabrik in Netzig“, sagte der Bürgermeister und schmunzelte. Da trat das Zimmermädchen ein und verkündete, sie müsse nun den Tisch zum Mittagessen decken; die gnädige Frau werde gleich zurück sein – „und auch die Frau Hauptmann“, setzte sie hinzu. Bei der Nennung dieses Titels erhob der Bürgermeister sich sofort. Wie [pg 135]er seine Gäste hinausgeleitete, hielt er den Kopf gesenkt und war, trotz der genossenen Schnäpse, ganz milchfarben. Auf der Treppe zog er Diederich am Ärmel. Jadassohn war zurückgeblieben, und man hörte das Mädchen leise kreischen. An der Haustür läutete es schon.

      „Mein lieber Herr Doktor,“ wisperte der Bürgermeister, „Sie haben mich doch nicht mißverstanden. Bei alledem habe ich natürlich einzig das Interesse der Stadt im Auge. Mir liegt es selbstverständlich ganz fern, irgend etwas zu unternehmen, worin ich mich nicht einig weiß mit den Körperschaften, an deren Spitze zu stehen ich die Ehre habe.“

      Er blinzelte eindringlich. Bevor Diederich sich besonnen hatte, betraten die Damen das Haus, und der Bürgermeister ließ Diederichs Ärmel los, um ihnen entgegenzueilen. Seine Frau, verhutzelt und mit Sorgenfalten, hatte kaum Zeit, die Herren zu begrüßen; sie mußte die Kinder trennen, die einander prügelten. Ihre Mutter aber, einen Kopf höher und noch jugendlich, musterte streng die geröteten Gesichter der Frühstücksgäste. Dann schritt sie junonisch auf den Bürgermeister zu, den man kleiner werden sah ... Assessor Dr. Jadassohn hatte sich schon von dannen gemacht, Diederich vollführte formelle Verbeugungen, die unerwidert blieben, und eilte hinterdrein. Ihm war aber beklommen, er sah unruhig auf der Straße umher, hörte nicht, was Jadassohn sagte, und plötzlich kehrte er um. Er mußte mehrmals und heftig läuten, denn drinnen war großer Lärm. Die Herrschaften standen noch am Fuße der Treppe, auf der die Kinder sich schreiend umherstießen, und sie debattierten. Die Frau Bürgermeister wünschte, daß ihr Gatte beim Schuldirektor etwas gegen einen Oberlehrer unternehme, der ihren Sohn schlecht behandelte. Dagegen forderte die Frau Hauptmann [pg 136]von ihrem Schwiegersohn, er solle den Oberlehrer zum Professor ernennen, denn seine Frau habe den größten Einfluß im Vorstand der Bethlehemstiftung für gefährdete Mädchen. Der Bürgermeister beschwor sie abwechselnd mit den Händen. Endlich konnte er ein Wort anbringen.

      „Einerseits ...“, sagte er.

      Aber da hatte Diederich ihn am Ärmel ergriffen. Nach vielen Entschuldigungen in der Richtung der Damen zog er ihn beiseite, und er flüsterte bebend: „Verehrter Herr Bürgermeister, es liegt mir daran, Mißverständnissen vorzubeugen. Ich darf daher wiederholen, daß ich ein durchaus liberaler Mann bin.“

      Doktor Scheffelweis versicherte flüchtig, daß er hiervon gerade so überzeugt sei wie von seiner eigenen, gut liberalen Gesinnung. Schon ward er abgerufen, und Diederich verließ, ein wenig erleichtert, das Haus. Jadassohn erwartete ihn grinsend.

      „Sie haben wohl Angst gehabt? Lassen Sie nur! Mit unserem Stadtoberhaupt kompromittiert sich niemand, er ist immer, wie der liebe Gott, mit den stärksten Bataillonen. Heute wollte ich nur feststellen, wie weit er sich schon mit Herrn von Wulckow eingelassen hat. Es steht nicht übel, wir können uns ein Stück vorwagen.“

      „Vergessen Sie, bitte, nicht,“ sagte Diederich, mit Zurückhaltung, „daß ich in der Netziger Bürgerschaft zu Hause und natürlich auch liberal bin.“

      Jadassohn sah ihn von der Seite an. „Neuteutonia?“ fragte er. Und als Diederich sich erstaunt umwandte: „Wie geht es denn meinem alten Freund Wiebel?“

      „Sie kennen ihn? Er war mein Leibbursch!“

      „Kennen! Ich habe mit ihm gehangen.“

      Diederich ergriff die Hand, die Jadassohn hinhielt, sie [pg 137]schüttelten einander kraftvoll. „Na dann!“ „Na also!“ Und Arm in Arm gingen sie in den Ratskeller, Mittag essen.

      Dort war es einsam und dämmerig, hinten ward für sie das Gas angezündet, und bis die Suppe kam, machten sie alte Kommilitonen ausfindig. Der dicke Delitzsch! Diederich berichtete mit der Genauigkeit eines Augenzeugen über seinen tragischen Tod. Das erste Glas Rauenthaler weihten sie still seinem Andenken. Es zeigte sich, daß auch Jadassohn die Februarkrawalle mitgemacht und damals die Macht verehren gelernt hatte, wie Diederich. „Seine Majestät hat einen Mut bewiesen,“ sagte der Assessor, „daß einem schwindlig werden konnte. Mehrmals habe ich, weiß Gott, geglaubt –.“ Er stockte, sie sahen schaudernd einander in die Augen. Um über die entsetzliche Vorstellung hinwegzukommen, erhoben sie die Gläser. „Gestatte mir“, sagte Jadassohn. „Ziehe gleich mit“, erwiderte Diederich. Und Jadassohn: „Werte Lieben mit eingeschlossen.“ Und Diederich: „Werde zu Hause davon zu rühmen wissen.“

      Dann ließ sich Jadassohn, obwohl sein Essen kalt ward, auf eine ausführliche Würdigung des kaiserlichen Charakters ein. Die Philister, Nörgler und Juden mochten an ihm aussetzen was sie wollten, alles in allem war unser herrlicher junger Kaiser die persönlichste Persönlichkeit, von erfreulicher Impulsivität und ein höchst origineller Denker. Diederich glaubte dies auch schon festgestellt zu haben und nickte befriedigt. Er sagte sich, daß das Äußere eines Menschen zuweilen trüge, und daß die deutsche Gesinnung nicht notwendig von der Größe der Ohren abhänge. Sie leerten ihre Gläser auf den glücklichen Ausgang des Kampfes für Thron und Altar, gegen den Umsturz in jeder Form und Verkleidung.

      So gelangten sie wieder zu den Zuständen in Netzig. Sie waren sich einig darin, daß der neue nationale Geist, für den es die Stadt zu erobern galt, kein anderes Programm brauche als den Namen Seiner Majestät. Die politischen Parteien waren alter Trödel, wie Seine Majestät selbst gesagt hatte. „Ich kenne nur zwei Parteien, die für mich und die wider mich“, hatte er gesagt, und so war es. In Netzig überwog leider noch die Partei, die gegen ihn war, aber das sollte sich

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