Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
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Da es schien, als könne Miette die Augen nicht mehr wegwenden von der Waffe, die er törichterweise im Grase hatte liegen lassen, erhob er sich und schob die Flinte von neuem unter den Holzstoß.
Wir haben heute morgen erfahren, sagte er und nahm neben ihr wieder Platz, daß die Aufständischen von La Palud und von Saint-Martin de Vaulx im Anzuge seien und die letzte Nacht in Alboise zugebracht haben. Es ist beschlossen worden, daß wir uns ihnen anschließen. Heute nachmittag hat ein Teil der Arbeiter von Plassans die Stadt verlassen, die übrigen werden morgen zu ihren Brüdern stoßen.
Das Wort »Brüder« sprach er mit einer wahrhaft knabenhaften Begeisterung aus. Immer lebhafter werdend fuhr er mit scharf vibrierender Stimme fort:
Der Kampf wird unvermeidlich; aber das Recht ist auf unserer Seite; wir werden siegen.
Miette hörte ihm zu und blickte starr vor sich hin. Als er schwieg, sagte sie einfach:
Es ist gut.
Nach einer Weile setzte sie hinzu:
Du hattest mich benachrichtigt ... aber ich hoffte dennoch ... Nun ist's entschieden ...
Sie fanden keine anderen Worte. Der verlassene Winkel des Werkplatzes, der grüne Weg an der Mauer versank wieder in trübes Schweigen; nur der helle Mond warf den Schatten der Holzstöße rund umher auf das Gras. Die Gruppe der beiden jungen Leute auf dem Grabstein war im bleichen Mondlicht unbeweglich und stumm geworden. Silvère hatte den Arm um den Leib Miettes gelegt, und diese lehnte sich an die Schulter des Burschen. Sie tauschten keine Küsse aus, nur eine Umarmung, in der die Liebe die zärtliche Unschuld einer geschwisterlichen Zuneigung annahm.
Miette war in einen großen braunen Mantel mit Kapuze gehüllt, der bis zu ihren Füßen hinunter fiel und sie ganz bedeckte. Man sah bloß ihren Kopf und ihre Hände. Die Frauen aus dem Volke, Bäuerinnen und Arbeiterinnen, tragen in der Provence heute noch diese breiten Mäntel, deren Mode eine recht alte sein muß. Wie sie gekommen war, hatte Miette die Kapuze zurückgeworfen. Als heißes junges Blut, das im Freien lebte, trug sie niemals eine Haube. Ihr unbedeckter Kopf hob sich kräftig von der mondbeleuchteten Mauer ab. Es war ein Kind, im Begriffe zum Weibe zu reifen. Sie befand sich in jenem unbestimmten, liebenswürdigen Alter, wo das Kind zur Jungfrau wird. In diesem Alter hat jedes Mädchen die Zartheit der sprießenden Knospe, eine Unfertigkeit der Formen, die einen köstlichen Reiz hat; in der unschuldigen Schmächtigkeit der Kindheit äußern sich schon die ersten Anzeichen der vollen, wollüstigen Linien der Erwachsenen; das Weib löst sich los mit der ersten züchtigen Verwirrung, noch zur Hälfte das Aussehen des kleinen Mädchens bewahrend und unwillkürlich in jeden seiner Züge das Zeugnis seines Geschlechtes legend. Für manche Mädchen ist dies eine schlimme Stunde; sie schießen plötzlich in die Höhe, werden häßlich, gelb, gebrechlich wie allzu rasch gediehene Pflanzen. Für Miette und für alle, die blutreich sind und in der freien Luft leben, ist's eine Stunde alles durchdringender Anmut, wie sie niemals wiederkehrt. Miette war dreizehn Jahre alt. Obgleich sie schon stark war, würde man sie doch nicht für älter gehalten haben, so sehr erhellte sich ihr Antlitz manchmal in einem frohen, kindlich-unschuldigen Lachen. Sie mußte übrigens schon mannbar sein; das Weib entwickelte sich sehr früh in ihr dank dem Klima und dem arbeitsamen Leben, das sie führte. Sie war fast so groß wie Silvère, stark und strotzend von Leben und Gesundheit. Gleich ihrem Freunde war auch sie von nicht gewöhnlicher Schönheit; man konnte sie nicht häßlich finden, aber sie mußte vielen jungen Leuten mindestens seltsam erscheinen. Sie hatte prachtvolles Haar; dicht und gerade in der Stirne wurzelnd, fiel es machtvoll zurück gleich einer aufspringenden Woge, dann floß es über Scheitel und Nacken herab wie eine tintenschwarze, launische, wellige Flut. Das Haar war so dicht, daß sie es nicht zu bewältigen vermochte und es ihr eine Last war. Sie wickelte es in mehrere Knoten von der Größe einer Faust zusammen, so stark sie nur konnte, damit es so wenig Platz wie möglich einnehme, und steckte es am Hinterkopfe auf. Sie hatte keine Zeit, sich lange mit ihrem Kopfputz zu beschäftigen, aber diese riesige Haarflechte, ohne Spiegel und in aller Hast gewunden, gewann unter ihren Fingern dennoch eine ungewöhnliche Anmut. Wenn man sie mit diesem lebendigen Helm bedeckt sah, mit diesem Haufen krauser Haare, die in reicher Fülle über Schläfen und Nacken hinabflössen gleich einem Tierfell, begriff man, weshalb sie unbedeckten Hauptes ging, unbekümmert um Sturm und Wetter. Unter der dunkeln Linie des Haares hatte die sehr niedrige Stirne die Form und die goldschimmernde Farbe eines Halbmondes; die vorspringenden, großen Augen; die kurze, an den Flügeln breite, am Ende aufgestülpte Nase; die allzu starken und allzu roten Lippen: sie würden häßlich geschienen haben, wenn man sie einzeln betrachtet hätte. Allein wenn man sie in der reizenden Rundung des Antlitzes, in dem regen Spiel des Lebens sah, bildeten diese Einzelheiten des Gesichtes ein Ganzes von seltsamer und ergreifender Schönheit. Wenn Miette lachte, den Kopf rückwärts leicht auf die rechte Schulter neigend, glich sie der antiken Bacchantin mit ihrer von hellem Frohsinn geschwellten Brust, ihren runden, vollen Kinderwangen, ihren breiten, weißen Zähnen, ihren Wülsten krauser Haare, welche die Ausbrüche der Freude auf ihrem Nacken tanzen ließen, gleich einem Kranze von Weinlaub. Um in ihr die Jungfrau, das Mädchen von dreizehn Jahren zu erkennen, mußte man sehen, wie viel Unschuld in diesem hellen, geschmeidigen Lachen des reifen Weibes lag, mußte man insbesondere die noch kindliche Zartheit des Kinns und die weiche Reinheit der Schläfen sehen. Das von der Sonne angehauchte Antlitz Miettens nahm an gewissen Tagen den Schein des Bernsteins an. Ein feiner, schwarzer Flaum warf bereits einen leichten Schatten auf ihre Oberlippe. Die harte, unaufhörliche Arbeit begann bereits ihre kurzen, kleinen Hände zu verunstalten, die bei einem müßigen Leben liebliche, fette Hände einer kleinen Bürgerin geworden wären.
Miette und Silvère blieben lange stumm; sie suchten in ihren unruhigen Gedanken zu lesen und in dem Maße, wie sie sich zusammen in die Angst und in das Unbekannte des kommenden Tages versenkten, ward ihre Umarmung fester und inniger. Das Mädchen konnte indes nicht länger an sich halten; sie drohte zu ersticken und sprach in einem Satze den Gedanken aus, der beide beunruhigte.
Du wirst wiederkehren, nicht wahr? stammelte sie, indem sie sich Silvère an den Hals warf.
Silvère fand keine Antwort; die Kehle war ihm wie zugeschnürt, und er fürchtete in Tränen auszubrechen wie sie. Er küßte sie wie ein Bruder, der keinen anderen Trost findet. Sie lösten sich aus der Umarmung und versanken wieder in das frühere Stillschweigen.
Nach kurzer Zeit fuhr Miette fröstelnd zusammen. Sie lehnte sich nicht mehr an die Schulter Silvère's; sie fühlte ihren Körper zu Eis erstarren. Noch am vorhergehenden Abend würde sie nicht so gefroren haben in dieser verlassenen Allee auf diesem Grabstein, wo sie schon seit einigen Jahren, in der Stille des alten Kirchhofes, so glücklich ihrer Liebe lebten.
Mich friert's! sagte sie, und schlug die Kapuze ihres Mantels herauf.
Wollen wir einen Gang machen? fragte der junge Mensch. Es ist noch nicht neun Uhr; wir können einen Spaziergang auf die Straße machen.
Miette dachte, daß sie vielleicht lange Zeit nicht wieder die Freude eines Stelldicheins haben werde, einer jener Abendplaudereien, die sie tagelang ersehnte.
Ja, gehen wir, sagte sie lebhaft; gehen wir bis zur Mühle. Ich bleibe die ganze Nacht bei dir, wenn du willst.
Sie stiegen von der Bank herab und verbargen sich hinter einem Bretterhaufen. Hier öffnete Miette ihren wattierten, mit rotem Wollstoff gefütterten Mantel und warf einen Flügel dieses breiten und warmen Kleidungsstückes über die Schulter Silvères, ihn so ganz einhüllend und in einem und demselben Kleidungsstücke an sich schließend. Sie legten