Amerigo: Historischer Roman. Stefan Zweig
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Der Prinz Enrique versammelt um sich die Gelehrten seiner Zeit. Er hat auf dem äußersten Punkte Portugals, dem Kap Sagres, wo das unendliche atlantische Meer hoch an die Klippen schäumt, sich ein Haus errichtet, in dem er Karten und nautische Nachrichten sammelt; einen nach dem andern der Astronomen, der Piloten beruft er zu sich. Die älteren Gelehrten erklären jede Seefahrt über den Äquator unmöglich. Sie berufen sich auf Aristoteles und Strabo und Ptolemäus, die Weisen des Altertums. In der Nähe des Wendekreises werde das Meer dickflüssig, ein »mare pigrum«, und die Schiffe würden verbrennen im steilen Sonnenbrand. Niemand könne in diesen Zonen wohnen, kein Baum und kein Grashalm gedeihen; die Seeleute müßten verschmachten zur See und verhungern auf dem Land.
Aber da sind andere Gelehrte, jüdische und arabische, die widersprechen. Man könne es wagen. Diese Märchen seien nur ausgestreut von den maurischen Kaufleuten, um die Christen zu entmutigen. Der große Geograph Edrisi habe längst festgestellt, daß im Süden ein fruchtbares Land liege, Bilad Ghana (Guinea), aus dem mit Karawanen quer durch die Wüste die Mauren sich schwarze Sklaven holten. Und sie hätten Karten gesehen, arabische Karten, die den Weg um Afrika zeigten. Man könne es wagen, die Küste entlang zu fahren, nun da die neuen Instrumente die Breitenbestimmung erlaubten und die aus China herübergebrachte Magnetnadel die Richtung des Pols zeige. Man könne es wagen, sofern man größere, seetüchtigere Schiffe baue. Prinz Enrique gibt den Befehl. Und das große Wagnis beginnt.
1450. Das große Wagnis hat begonnen, die unsterbliche portugiesische Tat. 1419 ist Madeira entdeckt oder vielmehr wiederentdeckt, 1435 kennt man die langgesuchten »insulae fortunatae« der Alten. Jedes Jahr fast bringt neuen Vorstoß. Cap Verde ist umfahren, 1445 der Senegal erreicht, und siehe, überall sind Palmen und Früchte und Menschen. Jetzt weiß die neue Zeit schon mehr als die Weisen der Vorzeit, und triumphierend kann Nuno Tristäo von einer Expedition zurückberichten, er habe »mit Verlaub seiner Gnaden des Ptolemäus« fruchtbares Land entdeckt, wo der große Grieche jede Möglichkeit bestritten. Zum erstenmal seit einem Jahrtausend wagt ein Seefahrer den Allweisen der Erdkunde zu verhöhnen. Einer dieser neuen Helden übertrifft den andern, Diego Cam und Diniz Diaz, Cadamosto und Nuno Tristão, jeder setzen sie an eine bisher unbetretene Küste den stolzen Gedenkstein mit dem portugiesischen Kreuz als Zeichen der Besitznahme. Staunend folgt die Welt dem Vorstoß dieses kleinen Volks ins Unbekannte, das allein das »feito nunca feito«, die nie getane Tat vollbringt.
1486. Triumph! Afrika ist umfahren! Bartholomäus Diaz hat das Cap Tormentoso, das Kap der Guten Hoffnung, umrundet. Von dort geht der Weg nicht mehr weiter nach Süden. Nur nach Osten quer über den Ozean muß man mit den guten Monsunen steuern, den Weg, den man bereits von den Karten kennt, die dem König von Portugal die Expedition zweier jüdischer Gesandten an den »Prester John«, den christlichen König von Abessinien, heimgebracht; dann ist Indien erreicht. Aber die Mannschaft des Bartholomäus Diaz ist erschöpft und bringt ihn damit um eine Tat, die Vasco da Gama vollbringen wird. Genug für diesmal! Der Weg ist gefunden. Niemand kann Portugal mehr zuvorkommen.
1492. Doch! Es ist jemand Portugal zuvorgekommen. Etwas Unglaubliches hat sich ereignet. Ein gewisser Colón oder Colom oder Colombo – »Christophorus quidam Colonus vir Ligurus«, wie Petrus Martyr berichtet –, »ein völlig unbekannter Mann«, »una persona que ninguna persona conocía«, wie ein anderer berichtet, ist unter spanischer Flagge westwärts in den offenen Ozean statt ostwärts über Afrika gefahren und hat – Wunder ohnegleichen! – auf diesem »brevissimo cammino« nach seiner Aussage Indien erreicht. Zwar hat er den Kubla Khan Marco Polos nicht angetroffen, aber er ist nach seiner Aussage zuerst auf der Insel Zipangu (Japan) gewesen und dann in Mangi (China) gelandet. Nur einige Tagereisen, und er hätte den Ganges erreicht.
Europa staunt auf, da Columbus zurückkehrt mit merkwürdig rötlichen Indern, mit Papageien und seltsamem Getier und großen Erzählungen vom Golde. Sonderbar, sonderbar – so ist die Erdkugel doch kleiner als man gedacht, und Toscanelli hat wahr gesprochen. Drei Wochen muß man nur von Spanien oder Portugal nach Westen steuern, und man ist in China oder Japan und ganz nahe den Inseln der Gewürze; welche Torheit dann, wie die Portugiesen sechs Monate um Afrika zu segeln, da Indien mit all seinen Schätzen so nah vor den Toren Spaniens liegt. Und das erste ist, daß Spanien sich durch päpstliche Bulle diesen Weg nach Westen und alle dort entdeckten Lande sichert.
1493. Columbus, nun aber nicht mehr ein gewisser »quidam«, sondern Großadmiral ihrer königlichen Majestät und Vizekönig der neuentdeckten Provinzen, fährt zum zweitenmal nach Indien. Er hat Briefe seiner Königin an den großen Khan mit, den er diesmal in China sicher anzutreffen hofft; er hat fünfzehnhundert Leute mit sich, Krieger, Matrosen, Siedler und sogar Musikanten, »um die Eingeborenen zu unterhalten«, außerdem reichlich eisenbeschlagene Kisten für das Gold und die Edelsteine, die er aus Zipangu und Calicut heimzubringen gedenkt.
1497. Ein anderer Seefahrer, Sebastian Cabot, ist quer von England über den Ozean gefahren. Und erstaunlich, auch er hat Land erreicht. Ist es das alte »Vinland« der Vikinger? Ist es China? Wunderbar jedenfalls, der Ozean, der »mare tenebroso« ist bezwungen und muß seine Geheimnisse Stück um Stück den Mutigen jetzt ausliefern.
1499. Jubel in Portugal, Sensation in Europa! Vasco da Gama ist heimgekehrt aus Indien über das gefährliche Kap. Er hat den andern, den weiteren, den schwierigeren Weg genommen, aber ist in Calicut gelandet bei den sagenhaft reichen Zamorims und nicht nur wie Columbus auf kleinen Inseln und abgelegenem Festland: er hat das Herz Indiens gesehen und seine Schatzkammern. Schon rüstet man eine neue Expedition unter Cabral. Spanien und Portugal sind jetzt im Wettlauf um Indien.
1500. Ein neues Geheimnis. Cabral ist auf seiner Fahrt um Afrika zu weit nach Westen ausgewichen und ist abermals auf Land im Süden gestoßen wie Cabot im Norden. Ist es die Insel Antilla, die sagenhafte der alten Karten? Ist es abermals Indien?
1502. Es ereignet sich zu viel, als daß man es fassen, begreifen, übersehen könnte; in diesem einen Jahrzehnt ist mehr entdeckt worden als vordem in Tausenden Jahren. Ein Schiff nach dem andern fährt aus dem Hafen, und jedes bringt neue Botschaft heim. Es ist, als ob ein zauberischer Nebel plötzlich zerrissen wäre: überall im Norden, im Süden taucht Land, überall eine Insel auf, wohin sich der Kiel nach Westen wendet; der Kalender mit all seinen Heiligen hat nicht mehr genug Namen, sie alle zu benennen. Ihrer tausend behauptet der Admiral Columbus allein entdeckt und die Ströme gesehen zu haben, die aus dem Paradies entspringen. Aber sonderbar, sonderbar! Wieso waren all diese Inseln, diese merkwürdigen Länder an der indischen Küste den Alten und den Arabern unbekannt? Wieso hat Marco Polo sie nicht erwähnt, und wie anders ist, was er von Zipangu und Zaitun berichtet, als was der Admiral gefunden? All das ist so wirr und so widersprechend und voll Geheimnis, daß man nicht weiß, was man glauben soll von diesen Inseln im Westen. Ist wirklich die Welt schon umrundet, ist Columbus tatsächlich schon so nahe dem Ganges gewesen, wie er behauptet, daß er, von Westen kommend, Vasco da Gama begegnen könnte, wenn er von Osten segelt? Ist das Erdrund kleiner, ist es größer als man gedacht? Da haben die deutschen Buchdrucker doch jetzt Bücher so leicht erreichbar gemacht – wenn nur endlich einer käme, all diese Wunder zu erklären! Ungeduldig warten die Gelehrten, die Seefahrer, die Kaufleute, die Fürsten, wartet Europa. Nach all den Entdeckungen will die Menschheit endlich wissen, was sie entdeckt hat. Die entscheidende Tat des Jahrhunderts, so fühlt jeder einzelne, ist vollbracht, aber es fehlen ihr noch der Sinn und die Deutung.
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