Bekenntnisse eines Häretikers. Roger Scruton
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Roger Scruton
BEKENNTNISSE EINES HÄRETIKERS
Aus dem Englischen von Julia Bantzer
INHALT
7Hinterm Bildschirm verstecken
8Trauern um das, was wir verloren haben Überlegungen zu Richard Strauss’ Metamorphosen
Vorwort
Diese Essaysammlung ist das Ergebnis von zehn Jahren reger Anteilnahme am öffentlichen Kulturgeschehen in Großbritannien und Amerika. Einige der Texte liegen bereits gedruckt oder online vor, andere erscheinen hier zum ersten Mal. Ich nenne sie Bekenntnisse, insofern sie Aspekte meines Denkens enthüllen, die ich, zumindest nach Meinung der Kritiker, besser für mich behalten hätte. Material mit eher akademischer Ausrichtung habe ich nicht einbezogen, sondern mich bemüht, nur solche Essays aufzunehmen, deren Gegenstände in den wechselvollen Zeiten, in denen wir leben, für alle intelligenten Leute von Belang sind.
Scrutopia, Weihnachten 2015
1.
So tun, als ob
»Bleib dir selbst treu,« sagt Shakespeares Polonius, »und du kannst keinem Menschen gegenüber unaufrichtig sein«. Václav Havel verlangte nach einem »wahrhaftigen Leben«. Und Solschenizyn schrieb: »Wenn Lügen in die Welt gesetzt werden, dann jedenfalls nicht von mir.« Wie viel Gewicht sollten wir solchen Verlautbarungen beimessen, und wie ihnen entsprechen?
Es gibt zwei Arten von Unwahrheit: Lügen und so tun, als ob. Jemand, der lügt, behauptet etwas, was er selbst nicht für wahr hält. Jemand, der so tut, als ob, glaubt, was er sagt, wenn auch nur vorübergehend und nur, um einen jeweiligen Zweck zu verfolgen.
Lügen kann jeder; es genügt, etwas in betrügerischer Absicht zu äußern. Für ein gelungenes Täuschungsmanöver dagegen braucht es Könnerschaft, man muss andere ebenso überzeugen wie sich selbst. Wer lügt, kann vorgeben, schockiert zu sein, wenn seine Lügen auffliegen, aber diese Vorgeblichkeit ist bereits Teil der Lüge. Der entlarvte Täuscher hingegen ist tatsächlich erschüttert, denn er hat ein Netz des Vertrauens geknüpft, in das er selbst eingebunden ist.
Zu allen Zeiten haben die Leute gelogen, um sich den Konsequenzen ihrer Handlungen zu entziehen, und jede moralische Erziehung beginnt damit, die Kinder zu lehren, das Schwindeln sein zu lassen. Die Täuschung bzw. Fälschung aber ist ein kulturelles Phänomen, das nicht zu allen Zeiten gleichermaßen in Erscheinung tritt. In den Gesellschaften etwa, wie sie Homer oder Chaucer beschreiben, spielen Leute, die vortäuschen und fälschen nur eine geringe Rolle. Zu Zeiten Shakespeares wiederum beginnen Dichter und Dramatiker ein entschiedenes Interesse an diesem neuartigen Typus zu entwickeln.
In Shakespeares King Lear leben die bösen Schwestern Goneril und Regan in einer Welt falscher Gefühle, indem sie sich selbst und ihrem Vater weismachen, dass sie innigste Liebe empfinden, wo sie tatsächlich vollkommen herzlos sind. Diese Herzlosigkeit allerdings ist ihnen selbst kaum bewusst, wäre sie es, könnten sie nicht mit derselben Schamlosigkeit handeln. Die Tragödie von King Lear nimmt ihren Lauf, wenn die echten, ehrlichen Leute – Kent, Cordelia, Edgar, Gloucester – von den unaufrichtigen ausmanövriert werden.
Jemand, der so tut, als ob, hat sich selbst als Person neu erfunden in der Absicht, eine andere gesellschaftliche Position einzunehmen als diejenige, die ihm natürlicherweise zukäme. Wie zum Beispiel Molières religiöser Hochstapler Tartuffe, der sich in falscher Frömmigkeit aufbläht und damit eine gesamte häusliche Gemeinschaft unter seine Fuchtel bringt. Sein Name ist sprichwörtlich geworden für das Laster, das sein Schöpfer vielleicht als erster mit solch vollkommener Genauigkeit beschrieben hat. Ebenso wie Shakespeare erkennt Molière, dass das So-tun-als-ob für seinen Urheber eine Herzensangelegenheit darstellt. Tartuffe ist nicht einfach nur ein Heuchler, der Ideale vorschützt, an die er selbst in keiner Weise glaubt. Er ist eine durchkonstruierte Figur und pflegt als diese deren Idealismus, wobei Figur wie Ideale gleichermaßen illusorisch sind.
Tartuffes Täuschungsmanöver war inspiriert von einer frömmlerischen Religiosität. Mit dem Niedergang der Religion im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam eine neue Spielart der Täuschung auf. Die romantischen Dichter und Maler kehrten der Religion den Rücken und suchten das Heil in der Kunst. Sie glaubten an den Genius des Künstlers, an dessen Vermögen, auf schöpferischem Wege die menschliche Bedingtheit zu transzendieren, indem er mit allen Regeln brach, um ganz neue, anders geartete Erfahrungen machen zu können. Die Kunst wurde der Königsweg zur Transzendenz, das Tor zu einem höheren Wissen.
Dementsprechend wurde Originalität zum Prüfstein, an dem sich echte von falscher Kunst scheiden ließ. Es ist schwierig, ganz allgemein zu sagen, was Originalität eigentlich ausmacht, aber Beispiele für sie gibt es genug: Tizian, Beethoven, Goethe, Baudelaire. Diese Beispiele allerdings lehren uns, dass Originalität einem Menschen ganz schön zu schaffen machen kann: sie lässt sich nicht aus der Luft greifen, auch wenn es da diese von der Natur Begünstigten wie Rimbaud und Mozart gibt, die genau das zu tun scheinen. Originalität erfordert stetiges Lernen, harte Arbeit, Meisterschaft in einem Medium, vor allem aber eine verfeinerte Empfindungsfähigkeit und Offenheit, üblicherweise um den Preis von Leiden und Einsamkeit.
Es ist also keineswegs einfach, den Status eines originellen Künstlers zu erringen. Wobei der Lohn für alle Mühen in einer Gesellschaft, die der Kunst als ihrer höchsten kulturellen Errungenschaft huldigt, enorm ist – was einen Anreiz schafft, so zu tun, als ob. Künstler und Kritiker gehen eine