FILM-KONZEPTE 58 - Vera Chytilová. Группа авторов

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FILM-KONZEPTE 58 - Vera Chytilová - Группа авторов FILM-KONZEPTE

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offenem Ausgang am Ende des Films – erfahren eine stärkere Gewichtung als die vom Skript vorgesehene vermeintliche Läuterung als narrativer Abschluss.

      Immer wieder scheren die einzelnen Segmente des Films aufgrund ihrer ästhetischen Eigenständigkeit aus dem Zusammenhang der narrativen Ordnung aus und entfalten ein atmosphärisches Eigenleben. Besonders eindrucksvoll zeigt sich diese Tendenz in DIE DECKE in der nächtlichen Odyssee, die Marta nach dem Streit mit ihrem Freund durch Prag und kurz vor ihrem morgentlichen Aufbruch aufs Land absolviert. Begleitet von den experimentellen Klängen des Nová-Vlna-Komponisten und Schauspielers Jan Klusák wechselt das Register des Films von der investigativen Haltung des Cinéma vérité und den Alltagsbeobachtungen der Nouvelle Vague in den reflexiv-poetischen Modus eines modernen Experimentalfilms. Die eigene Erfahrung als Model und Studienabbrecherin bildet in DIE DECKE den Ausgangspunkt für ein exploratives Porträt, das in den abschließenden Sequenzen in einem ambitionierten filmischen Experiment über Entfremdung und die Erfahrung der urbanen Moderne kulminiert.

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      Nächtliche Passage durch Prag in DIE DECKE

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      Nächtliche Passage durch Paris in FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT von Louis Malle

      Aus einer filmphilosophischen Perspektive lässt sich diese nächtliche Passage durch Prag am Ende von DIE DECKE im Dialog mit ähnlich gelagerten Sequenzen aus Louis Malles ASCENSEUR POUR L’ÈCHAFAUD (FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT, 1958) und dem bei Hames erwähnten L’ÉCLISSE (LIEBE ’62, 1962) von Michelangelo Antonioni betrachten. In beiden Filmen finden sich ebenfalls exponierte Sequenzen, in denen die Kamera atmosphärische bis experimentelle Streifzüge durch das urbane Ambiente absolviert. In Louis Malles Hommage an den klassischen Film noir folgt die Inszenierung der von Jeanne Moreau gespielten Florence, nachdem der gemeinsam mit ihrem heimlichen Geliebten gefasste kriminelle Plan scheinbar gescheitert ist. Begleitet von einem Cool-Jazz-Soundtrack, den Miles Davis eigens für den Film komponiert hat, zieht sie durch die nächtliche, abweisende Stadt, vorbei an Schaufenstern und Kneipen. Innere Monologe geben ihre Verzweiflung und ihre Reflexionen über die eigene unglückliche Situation wieder. Donnergeräusche auf der Tonspur deuten ein nahendes Gewitter an. Florences nächtliche Odyssee bewegt sich in einer schwer zu fassenden Grauzone zwischen Flanieren und orientierungslosem Irrweg. Die moderne urbane Entfremdung wird in den Szenen, die Florence meistens aus einer Halbnahen folgen, unmittelbar erfahrbar. Von der Faszination des Großstadtdschungels, die spätere Neo-Noir-Variationen, unter anderem im französischen Cinema du Look der 1980er Jahre bestimmt, lässt sich kaum etwas erahnen.

      Věra Chytilová nimmt eine Position zwischen der Objektwelt Antonionis und der subjektivierten Haltung Malles ein. DIE DECKE erzielt, indem die Emotionen Martas sich nicht ganz eindeutig erkennen lassen, eine abstrakte Qualität. Der dem Streifzug durch die Nacht vorangegangene Blick auf eine Decke signalisiert, dass es sich bei der nächtlichen Odyssee entlang von Schaufenstern und Boutiquen anscheinend um die Grenzen handelt, an die Marta in ihrer Entfremdung stößt. Die Bildkomposition zieht Parallelen zwischen ausgestellten Schaufensterpuppen und Martas fremdbestimmtem Rollenverhalten. Ihr Gesicht wird im Halbschatten gezeigt und ihr Gang durch eine symmetrische Baumallee impliziert einen Übergangsritus. Im Zusammenspiel mit Jan Klusáks experimenteller Musik deutet Chytilová wie bei Louis Malle subjektive Zustände an, formuliert diese jedoch nicht eindeutig aus. Durch diese bewusste Ambivalenz nähert sie sich Antonionis Blick auf die urbane Moderne an. Chytilová und ihr Kameramann Jaromir Sofr folgen bei den Aufnahmen ohne feste Vorgaben der Darstellerin Marta Kanovská durch die Stadt. Zufällig eingefangene Impressionen wie ein Schweißer, der Schienen repariert, verleihen den Szenen eine ganz eigene poetische Qualität, die über die ernüchternde und beklemmende Präsentation der Bilder bei Antonioni hinaus verweist und eine neue Offenheit in der Deutung ermöglicht.

      Im Unterschied zu L’ÉCLISSE gibt es in DIE DECKE aufgrund der Präsenz von Marta nach wie vor eine Handlungsträgerin. Wie in ihren späteren Arbeiten, insbesondere in den kreativen Destruktionsorgien von TAUSENDSCHÖNCHEN, gibt Chytilová keine Wertung vor. Im Niemandsland zwischen Dokumentation und Spielfilm werden die von DIE DECKE aufgeworfenen Fragen auf ästhetisch anregende Weise ganz im Sinne der Moderne an das Publikum delegiert. Anstelle des vereinfachenden, von den Kritikern des Drehbuchs vorgesehenen Gesinnungswandels, wird Marta von den Zwängen einer überdidaktischen Erzählung befreit und in eine ungewisse Zukunft entlassen.

      Die Rebellion gegen narrative Schemata in den frühen Filmen der Nová Vlna lässt sich nicht nur als Paradigmenwechsel in der filmischen Haltung gegenüber dem Realen verstehen. Statt die Antworten durch eine konventionelle Handlung und ein ästhetisches Programm, sei es der Sozialistische Realismus oder die Tradition der Qualität, bereits vorzugeben, sollen vielmehr mit einer gewissen Neugier und einem ausgeprägten Bewusstsein für filmische Formen neue Fragen an die Wirklichkeit und die Kunst formuliert werden. Dazu gehört auch, dass Außenseiter*innen und ausgegrenzte Lebenswirklichkeiten in den Blick genommen werden, ohne ihnen gleich ein Umerziehungsprogramm zu verordnen.

      In ihrem zweiten semi-dokumentarischen Kurzfilm EIN SACK VOLLER FLÖHE kombiniert Věra Chytilová, nachdem sie in DIE DECKE die Grenzen des Dokumentarischen zum reflexiven abstrakten Essay-Film ausgelotet hat, die Einflüsse des Cinéma vérité mit einer als Spielfilm umgesetzten Reportage.

       II. EIN SACK VOLLER FLÖHE –

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