Die Unsichtbaren. Roy Jacobsen
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Endlich haben sie etwas Handfestes und Greifbares zu besprechen und betreten das Wohnhaus, wo Maria in der guten Stube eine Tischdecke ausgebreitet hat, und nach Kuchen und Kaffee und beschlossenem Handel überkommt den Pastor eine tiefe Ruhe und er spürt, wie der Schlaf nun die größte Gnade ist, die ihm widerfahren kann, woraufhin seine Augen zufallen und seine Atemzüge schwerer und länger werden. Mit den Händen im Schoß sitzt er in Martins Schaukelstuhl, ein schlafender Pastor in ihrem Heim, ein sowohl beeindruckender als auch lächerlicher Anblick. Sitzend und stehend bleiben sie solange bei ihm, bis er die Augen öffnet und schmatzt und aufsteht und so aussieht, als wüsste er nicht, wo er ist. Aber dann erkennt er sie wieder und verneigt sich, wie zum Dank. Sie wissen nicht, wofür er sich bedankt, und er sagt kein Wort, während sie ihn hinunter zum Boot begleiten und sehen, wie er sich neben einem Sack Daunen und einem kleinen Fass Möweneier im Achtersteven auf einen Haufen Netze legt, um gleich darauf wieder die Augen zu schließen, so dass es aussieht, als schliefe er auch, während er sie verlässt. Noch immer ragt der Rauch wie eine senkrechte Säule in den Himmel.
2
Alles Wertvolle auf einer Insel kommt von außen, abgesehen von der Erde, aber deswegen sie sind nicht hier, das ist den Inselbewohnern peinlich bewusst. Hans Barrøy hat seinen letzten Sensenschaft zerbrochen und muss die Heuernte einstellen. Er kann sich keine neue Sense schnitzen und dabei Holz benutzen, das auf der Insel wächst, denn es muss Eschenholz sein, das er von der Handelsstation kaufen kann, oder er muss ein anderes Holz benutzen, das er sich selbst beschaffen kann, gratis.
Er hängt das Sensenblatt an einen Heureuter, läuft über den grasbewachsenen Weg zum Anlegeplatz, schiebt das Boot hinaus ins smaragdgrüne Meer und will gerade an Bord gehen, besinnt sich jedoch anders und geht wieder hinauf zu den Häusern, wo Maria an der Sonnenwand sitzt und eine Hose flickt und aufschaut, als er gerade um die Ecke biegt.
»Wo is die Kleine?«, fragt er übertrieben laut, er weiß, dass Ingrid ihn gesehen und sich versteckt hat, weil er sie suchen und in hohem Bogen wie eine Möwe durch die Luft wirbeln soll.
Maria deutet mit dem Blick in Richtung Kartoffelkeller, und sogleich ruft der Vater mit lauter Stimme, dass sie nun wohl nicht mitkommen kann, wenn er hinüber nach Skogsholmen fährt, und dann bewegt er sich wieder zum Ufer hinunter, kaum legt er ein paar Meter zurück, als er schon ihre Schritte hört und sich im passenden Moment hinunterbeugt, damit sie auf ihn springen und die Arme um seinen Hals legen und johlen kann, während er wie ein Pferd weitertrabt und Geräusche macht, die er nur hervorbringt, wenn sie beide allein sind.
Dieses Lachen.
Er fragt, ob sie das Schafsfell mitnehmen sollen.
»Ja«, sagt sie und klatscht in die Hände.
Er geht ins Bootshaus und holt eines der Schafsfelle und legt es in den Achtersteven des Bootes, so dass es wie ein Bett aussieht, geht wieder an Land und trägt sie an Bord, und sie aalt sich mit dem Rücken an den Steven, damit sie ihm beim Rudern zusehen und über den Rand des Dollbords lugen und den Kopf hin und her werfen kann, die kleinen Finger wie weiße Sandwürmer auf der pechschwarzen Reling.
Dieses Lachen.
Er rudert um die Landzunge, durch ein Gewirr aus Felsen und Schären, und wählt den geradesten Weg hinaus nach Skogsholmen, während er über die Taufe vor drei Wochen redet, über die Kirche, die für nicht weniger als acht Kinder von den Inseln so prachtvoll geschmückt war, und doch war es nur sie allein, die auf eigenen Füßen ans Taufbecken treten und ihren Namen nennen konnte, als der Pastor fragte, wie das Kind heißen solle, und der Vater sagt, dass sie langsam zu groß ist, um dort wie eine Leiche auf dem Schafsfell zu liegen, anstatt sich nützlich zu machen, zu rudern oder eine Angelschnur zu halten, damit sie einen oder zwei Köhler mitbringen können und nicht nur die Sensenschäfte.
Sie erwidert, dass sie gar nicht größer werden muss, und beugt sich erst zur einen und dann zur anderen Seite hinaus, obwohl er sagt, dass sie in der Mitte des Boots sitzen soll.
Bei Oterholmen lenkt er das Boot zu den Laichgründen an der Südspitze von Moltholmen, ändert nach achtzig Schlägen erneut den Kurs und rudert zwischen den Lundeschären hindurch, wo das Meer bei diesem Wasserstand gerade tief genug ist, bevor er schließlich das Boot mit einem geschickten Manöver in eine Bucht an der Innenseite der Insel steuert, wo er einen Pflock in den Fels geschlagen hat.
Er sagt ihr, dass sie die Vertäuung an Land ziehen soll, und sie steht da und hält das Boot wie eine Kuh am Strick, während er aufsteht und umherblickt, als ob es dort etwas zu sehen gäbe, die Vögel am Himmel, die Felsen dort hinter seiner eigenen Insel, Barrøy, und die lauten Seeschwalbenschreie, ein weißes und schwarzes Blinken, das den Luftraum über ihnen durchpflügt.
Er klettert an Land und zeigt ihr, wie man einen halben Stek bindet. Sie schafft es nicht und wird wütend, er zeigt es ihr, sie machen es zusammen, sie lacht, ein halber Stek um einen Pflock. Er sagt, dass sie im Gletschertopf baden kann, während er in den Wald geht, dort gibt es zu viele Insekten.
»Vergiss nicht, dich auszuziehen.«
In dem kleinen Wald der von Nord nach Süd verlaufenden Talsenke der Insel findet er vier passende Stämme, keine Esche, aber etwas, das so weit im Norden gar nicht wachsen dürfte, einer davon mit einer Krümmung oberhalb der Wurzel, er wird gut auf der Schulter liegen, das ist mehr, als er erwarten durfte.
Er legt sich die Stangen auf die Schulter, klettert wieder den Felsen hinauf und lässt sich neben dem Gletschertopf fallen, in dem sie bis zu den Achseln im Wasser sitzt und ihre Hände betrachtet, sie ineinander verschränkt und auf die Oberfläche klatscht, so dass das Regenwasser ihr Gesicht bespritzt und sie jauchzen und Grimassen schneiden lässt. Dieses Lachen. Und seine Unruhe, die da ist, seitdem die Kleine geboren wurde.
Er lehnt sich zurück und fällt mit den Schultern auf den rauen Fels, stößt sich den Hinterkopf an einem Stein, liegt da und blickt hinauf zu dem Seeschwalbenschwarm und hört sie Fragen stellen, wie jedes Kind sie stellt, sie will, dass er auch ins Wasser kommt, die Platschgeräusche und der kühle Ostwind, das Salz auf den Lippen, der Schweiß und das Meer, er versinkt in einem Wirbel aus Licht und Schatten, steigt wieder empor und späht zu ihr, die jetzt splitternackt im Sonnenlicht steht und fragt, ob sie sich mit ihren Kleidern abtrocknen darf.
»Nimm das hier«, sagt er und zieht sich das Hemd aus und hört sie lachen, wie weiß sein Oberkörper doch ist, so kohlrabenschwarz der Hals und die Arme, er ähnelt einer Puppe, die er einmal für sie gemacht hat, aus Teilen, die nicht zusammenpassen, auch das der gewöhnliche Einfall eines Kindes, die Puppe heißt Oscar, manchmal heißt sie Anni.
Auf dem Rückweg angeln sie drei Köhler, die nebeneinander zu ihren Füßen liegen, während sie in sein Hemd gewickelt dasitzt. Er sagt, dass er es wiederhaben will, da es jetzt zum Abend hin kühler wird. Sie lässt sich rückwärts auf das Fell fallen, umfasst ihre Beine und blickt ihn über die Knie hinweg spöttisch an.
»Du lachst wohl über alles«, sagt er und denkt, dass sie den Unterschied zwischen Spaß und Ernst versteht, dass sie selten weint, nicht trotzig ist oder sich verschließt, nie krank ist und lernt, was sie lernen soll, diese Unruhe, die er ablegen muss.
»Willsse die nich ausnehmen?«,