Aristoteles: Gesammelte Werke. Aristoteles
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Doch genug darüber. Kommen wir jetzt zu den verschiedenen Ansichten über die Lust.
Zweites Kapitel.
Eudoxus271 meinte, die Lust sei das Gute, weil man alles, Vernunftbegabtes und Vernunftloses, nach ihr streben sehe. In allen Dingen aber sei das Begehrte gut und das am meisten Begehrte am besten. So beweise denn die Erscheinung, daß alles zu dem Einen und Selben hingezogen wird, daß dieses für alle das Beste sei. Wie nämlich jedes Wesen seine Nahrung zu finden wisse, so auch was ihm gut sei. So müsse denn was allen gut sei und wonach alles strebe, das Gute schlechthin sein. Diese Lehren fanden aber ihrer Zeit mehr Glauben wegen des tugendhaften Charakters des Eudoxus als um ihrer selbst willen. Denn er galt für einen Mann von nicht gewöhnlicher Mäßigkeit, und so bekam man denn den Eindruck, daß er nicht als Freund der Lust solches lehre, sondern daß es sich wirklich so verhalte. Die Richtigkeit seines Satzes sollte ihm zufolge nicht minder deutlich aus dem Gegenteil der Lust erkannt werden können. Die Unlust nämlich gelte allen an sich als etwas, was man fliehen müsse; demnach müsse das Gegenteil von ihr an sich begehrenswert sein. Am meisten aber sei begehrenswert was wir nicht mit Rücksicht auf ein anderes oder um eines anderen willen begehren. Das sei aber eingestandenermaßen das unterscheidende Merkmal der Lust. Niemand frage, zu welchem Zwecke man sich freuen wolle, und darin spreche sich die Tatsache aus, daß die Freude und die Lust an sich begehrenswert ist. Auch mache sie als Zugabe zu jedwedem Gute, wie zur Übung der Gerechtigkeit oder der Mäßigkeit, dasselbe noch begehrenswerter; nun wachse aber das Gute nur durch sich selbst.
Aber dieses letzte Argument möchte doch wohl lediglich dartun, daß die Lust ein Gut neben anderen ist, nicht mehr als sonst eines. Jedes Gut ist in Verbindung mit einem anderen begehrenswerter als für sich allein. Das ist das Argument, mit dem Plato umgekehrt erweisen will, daß die Lust nicht das Gute ist. Das lustvolle Leben, sagt er, sei im Verein mit Klugheit begehrenswerter als ohne Klugheit; wenn aber das Vereinte besser sei, so sei die Lust nicht das Gute. Denn das Gute an sich könne durch keinerlei Zusatz begehrenswerter werden. Allein man sieht, daß so auch sonst nichts das Gute wäre, was zusammen mit etwas an sich Gutem begehrenswerter wird. Was wäre denn also ein solches Gute, woran auch wir teil haben könnten? Um ein solches fragt es sich doch272.
Die aber den Satz, gut sei wonach alles strebt, beanstanden wollen, dürften damit leicht eine Meinung zu vertreten scheinen, mit der sich kein gesunder Sinn verbinden läßt. (1173a) Was alle glauben, das, behaupten wir, ist wahr. Wer diesen übereinstimmenden Glauben der Menschheit verwirft, wird schwerlich glaubwürdigeres zu sagen wissen. Wären es bloß die vernunftlosen Wesen, die nach dem Lustbringenden Verlangen trügen, so möchte vielleicht an jener Meinung etwas sein, nun es aber auch die vernunftbegabten sind, wie könnte sie da einen Sinn haben? Vielleicht ist aber auch in schlechten Individuen noch ein natürlich Gutes, besser als sie selbst, was nach dem eigentümlichen Gute begehrt273. Aber auch das scheint verfehlt, was man wohl zu dem Argumente aus dem Gegenteil der Lust bemerkt. Man sagt nämlich: wenn die Unlust ein Übel ist, so folgt nicht, daß die Lust ein Gut ist. Es könne ja auch einem Übel ein Übel entgegengesetzt sein, und beide, Gutes und Schlimmes, einem Dritten, das keines von beidem sei. Diese Bemerkung ist an sich nicht unrichtig, aber doch in unserem Falle verfehlt. Wären beide schlecht, so wären notwendig auch beide zu fliehen; wäre es keins von beiden, so wären auch beide nicht zu fliehen, oder man müßte sich gegen beide gleichmäßig verhalten. Nun aber sieht man, wie die Menschen das eine als ein Übel fliehen und das andere als ein Gut begehren. Also ist sich auch beides so entgegengesetzt.
Auch wenn die Lust kein Qualitatives ist, folgt daraus nicht, daß sie kein Gut ist. Auch die tugendgemäßen Tätigkeiten und die Glückseligkeit sind ja keine Qualitäten274.
Man sagt ferner, das Gute sei bestimmt, die Lust aber sei unbestimmt, weil sie ein Mehr und Minder zuläßt. Aber wenn man auf Grund des Fühlens der Lust so urteilt, so wird ein gleiches von der Gerechtigkeit und den anderen Tugenden gelten müssen, wo man unbedenklich sagt, daß die Inhaber tugendhafter Eigenschaften das mehr und minder sind. Denn es gibt solche, die in höherem Grade gerecht und mutig sind; und auch gerecht handeln und mäßig sein kann man mehr und weniger. Ist aber das Mehr oder Minder in den Lüsten gemeint, so trifft man wohl den eigentlichen Grund der Sache nicht, wenn es wahr ist, daß die Lüste teils gemischt teils ungemischt sind. Denn weshalb soll es nicht mit der Lust sein können wie mit der Gesundheit, die ja ebenfalls zwar bestimmt ist, aber doch ein Mehr und Minder zuläßt? Das Gleichmaß, worauf sie beruht, ist nicht in allem ein und dasselbe, auch nicht bei einem immer das gleiche, sondern es kann bis zu einem bestimmten Grade nachlassen, unbeschadet seines Fortbestandes, und gestattet so verschiedene Grade. So kann es also auch mit den verschiedenen Graden der Lust sein275.
Weiterhin sagt man, das Gute sei vollendet, die Bewegung und das Werden aber unvollendet, und sucht zu zeigen, daß die Lust Bewegung und Werden ist. – Aber schon das scheint verfehlt, daß die Lust Bewegung sein soll. Jeder Bewegung ist Schnelligkeit und Langsamkeit eigen, wenn auch nicht im Vergleich mit sich selbst, so doch im Verhältnis zu einem anderen, wie man an der Himmelsbewegung sieht. Bei der Lust aber findet sich keines von beiden, keine Schnelligkeit und keine Langsamkeit. Ja, (1173b) bekommen kann man das Gefühl der Lust schnell, wie auch das des Zorns, aber haben kann man es nicht schnell, auch nicht im Vergleich mit einem anderen, wohl aber kann man schnell gehen, wachsen und dergleichen. Also der Übergang zur Lust kann schnell und langsam zustande kommen, aber schnell aktuell sein in bezug auf die Lust, will sagen, schnell Lust fühlen, das kann man nicht. Und wie sollte sie weiter ein Werden sein? Es wird oder entsteht doch nicht unterschiedslos jedes aus jedem, sondern jedes löst sich in das auf, woraus es wird. So müßte auch, wenn die Lust das Werden einer Sache ist, das Vergehen derselben Sache die Unlust sein. Man sagt nun, die Unlust sei der Mangel einer Sache, die von der Natur gefordert wird, und die Lust der Ausgleich dieses Mangels. Aber solche Dinge wie Mangel und Ausgleich sind körperlicher Art. Wenn also die Lust der von der Natur geforderte Ausgleich ist, so muß das, was den Ausgleich erfährt, der Körper also, Lust fühlen, und das wird man schwerlich annehmen. Mithin ist die Lust kein Ausgleich, sondern sie stellt sich nur gelegentlich eines solchen ein, wie auch die Unlust aus Anlaß des Gegenteils, z. B. wenn man sich schneidet, ausgelöst wird. Diese Meinung ist wohl hauptsächlich durch das Gefühl der Unlust und Lust veranlaßt, das sich auf die Ernährung bezieht. Man beruft sich darauf, daß man zuerst ein Bedürfnis verspürt und Unlust fühlt und hernach über die Stillung des Bedürfnisses Lust fühlt. Allein das trifft nicht bei allen Arten der Lust zu. Der Lust am Studium z. B. geht keine Unlust voraus, der sinnlichen Lust, die auf dem Geruch beruht, auch keine, und das gleiche gilt von so vielem, was man hört und sieht, und so manchen Erinnerungen und Hoffnungen. Wovon also sollten diese Genüsse ein Werden sein? Es ging ja kein Mangel voraus, den sie ausgleichen könnten.
Wenn man sich endlich auf die schimpflichen Lüste beruft, so kann man antworten, daß sie keine Lust sind. Sind sie für Menschen von schlechter sittlichen Verfassung eine Lust, so darf man darum nicht meinen, daß sie es auch noch für andere als jene sind, wie ja auch was den Kranken zuträglich ist oder süß oder bitter vorkommt, das darum noch nicht an sich ist, oder was den Augenkranken weiß erscheint, darum noch nicht weiß ist. – Oder man kann auch antworten, daß zwar die Lüste begehrenswert sind, aber nicht, wenn sie aus solchen Quellen fließen, wie es auch gut ist, reich zu sein, aber nicht für den, der Verrat geübt hat, und gut