Der Untertan. Heinrich Mann

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Der Untertan - Heinrich Mann

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Absichten zugetraut hatte. Gerade der, den er am meisten gefürchtet hatte, nahm ihn unter seinen Schutz und ward ihm ein wohlgesinnter Erzieher.

      Wiebel war Jurist, was ihm allein schon Diederichs Unterordnung gesichert hätte. Nicht ohne Selbstzerknirschung sah er die englischen Stoffe an, in die Wiebel sich kleidete, und die farbigen Hemden, von denen er immer mehrere abwechselnd trug, bis sie alle in die Wäsche mussten. Das Beklemmendste aber waren Wiebels Manieren. Wenn er mit leichter eleganter Verbeugung Diederich zutrank, klappte Diederich – und seine Miene war leidend vor Anstrengung – tief zusammen, verschüttete die eine Hälfte und verschluckte sich mit der anderen. Wiebel sprach mit leiser, arroganter Feudalstimme.

      „Man kann sagen, was man will,“ bemerkte er gern, „Formen sind kein leerer Wahn.“

      Für das F in „Formen“ machte er seinen Mund zu einem kleinen schwarzen Mausloch und stieß es langsam geschwellt heraus. Diederich unterlag jedes Mal wieder dem Schauer von so viel Vornehmheit. Alles an Wiebel dünkte ihm erlesen: dass die rötlichen Barthaare ganz oben auf der Lippe wuchsen und seine langen, gekrümmten Nägel nach unten gekrümmt, nicht, wie bei Diederich, nach oben; der starke männliche Duft, der von Wiebel ausging, auch seine abstehenden Ohren, die die Wirkung des durchgezogenen Scheitels erhöhten, und die katerhaft in Schläfenwulste gebetteten Augen. Diederich hatte das alles immer nur im unbedingten Gefühl des eigenen Unwertes mit angesehen. Seit aber Wiebel ihn anredete und sich sogar zu seinem Gönner machte, war es Diederich, als sei ihm erst jetzt das Recht auf Dasein bestätigt. Er hatte Lust, dankbar zu wedeln. Sein Herz weitete sich vor glücklicher Bewunderung. Wenn seine Wünsche sich so hoch hinausgewagt hätten, auch er hätte gern solchen roten Hals gehabt und immer geschwitzt. Welch ein Traum, säuseln zu können wie Wiebel!

      Und nun durfte Diederich ihm dienen, er war sein Leibfuchs! Stets wohnte er Wiebels Erwachen bei, suchte ihm seine Sachen zusammen – und da Wiebel infolge unregelmäßiger Bezahlung mit der Wirtin schlecht stand, besorgte Diederich ihm den Kaffee und reinigte ihm die Schuhe. Dafür durfte er mitgehen auf allen Wegen. Wenn Wiebel ein Bedürfnis verrichtete, hielt Diederich draußen Wache, und er wünschte sich nur, seinen Schläger da zu haben, um ihn schultern zu können.

      Wiebel hätte es verdient. Die Ehre der Korporation, in der auch Diederichs Ehre und sein ganzes Schuldbewusstsein wurzelten, am glänzendsten vertrat Wiebel sie. Er schlug sich, mit wem man wollte, für die Neuteutonia. Er hatte das Ansehen der Verbindung erhöht, denn er sollte einst einen Vindoborussen koramiert haben! Auch hatte er einen Verwandten beim Zweiten Garde-Grenadierregiment Kaiser Franz Joseph; und so oft Wiebel seinen Vetter von Klappke erwähnte, machte die ganze Neuteutonia eine geschmeichelte Verbeugung. Diederich suchte sich einen Wiebel in der Uniform eines Gardeoffiziers vorzustellen; aber so viel Vornehmheit war nicht auszudenken. Eines Tages dann, wie er mit Gottlieb Hornung, weithin duftend, vom täglichen Frisieren kam, stand an einer Straßenecke Wiebel mit einem Zahlmeister. Kein Irrtum: es war ein Zahlmeister – und als Wiebel ihr Kommen bemerkte, drehte er ihnen den Rücken. Auch sie wendeten und machten sich stumm und stramm davon, ohne einander anzusehen und ohne eine Bemerkung. Jeder vermutete, dass auch der andere die Ähnlichkeit des Zahlmeisters mit Wiebel festgestellt habe. Und vielleicht kannten die übrigen schon längst den wahren Sachverhalt? Aber allen stand die Ehre der Neuteutonia hoch genug, um zu schweigen, ja, um das Erblickte zu vergessen. Als Wiebel das nächste Mal „mein Vetter von Klappke“ sagte, verbeugten Diederich und Hornung sich mit den anderen, geschmeichelt wie je.

      Schon hatte Diederich Selbstbeherrschung gelernt, Beobachtung der Formen, Korpsgeist, Eifer für das Höhere. Nur mit Mitleid und Widerwillen dachte er an das elende Dasein des schweifenden Wilden, das früher das seine gewesen war. Jetzt war Ordnung und Pflicht in sein Leben gebracht. Zu genau eingehaltenen Stunden erschien er auf Wiebels Bude, im Fechtsaal, beim Friseur und zum Frühschoppen. Der Nachmittagsbummel leitete zur Kneipe über; und jeder Schritt geschah in Korporation, unter Aufsicht und mit Wahrung peinlicher Formen und gegenseitiger Ehrerbietung, die gemütvolle Derbheit nicht ausschloss. Ein Kommilitone, mit dem Diederich bisher nur offiziellen Verkehr unterhalten hatte, stieß einst mit ihm vor der Toilette zusammen, und obwohl sie beide kaum noch gerade stehen konnten, wollte keiner den Vortritt annehmen. Lange komplimentierten sie sich – bis sie plötzlich, im gleichen Augenblick vom Drang überwältigt, wie zwei zusammenprallende Eber durch die Tür brachen, dass ihnen die Schulterknochen knackten. Das war der Beginn einer Freundschaft. In menschlicher Lage einander näher gekommen, rückten sie nachher auch am offiziellen Kneiptisch zusammen, tranken Schmollis und nannten sich „Schweinehund“ und „Nilpferd“.

      Nicht immer zeigte das Verbindungsleben seine heitere Seite. Es forderte Opfer; es übte im männlichen Ertragen des Schmerzes. Delitzsch selbst, der Quell so mancher Heiterkeit, verbreitete Trauer in der Neuteutonia. Eines Vormittags, wie Wiebel und Diederich ihn abzuholen kamen: er stand am Waschtisch und sagte noch: „Na da. Habt ’r heit aach so ä Durscht?“ – plötzlich, ehe sie zugreifen konnten, fiel er hin, mitsamt dem Waschgeschirr. Wiebel befühlte ihn: Delitzsch regte sich nicht mehr.

      „Herzklaps“, sagte Wiebel kurz. Er ging stramm zur Klingel. Diederich hob die Scherben auf und trocknete den Boden. Dann trugen sie Delitzsch auf das Bett. Dem formlosen Gejammer der Wirtin gegenüber verharrten beide in streng kommentmäßiger Haltung. Unterwegs zur Erledigung des weiteren – sie marschierten im Takt nebeneinander – sagte Wiebel mit straffer Todesverachtung:

      „So was kann jedem von uns passieren. Kneipen ist kein Spaß. Das kann sich jeder gesagt sein lassen.“

      Und mit allen anderen fühlte Diederich sich gehoben durch Delitzsch’ treue Pflichterfüllung, durch seinen Tod auf dem Felde der Ehre. Mit Stolz folgten sie dem Sarge; „Neuteutonia sei’s Panier“, stand in jeder Miene. Auf dem Friedhof, die umflorten Schläger gesenkt, hatten alle das in sich vertiefte Gesicht des Kriegers, den die nächste Schlacht dahinraffen kann, wie die vorigen den Kameraden; und was der erste Chargierte von dem Geschiedenen rühmte: er habe in der Schule der Mannhaftigkeit und des Idealismus den höchsten Preis errungen, das erschütterte jeden, als gälte es ihm selbst.

      Hiermit ging Diederichs Lehrzeit zu Ende, denn Wiebel trat aus, um sich auf den Referendar vorzubereiten; und fortan hatte Diederich die von ihm übernommenen Grundsätze selbständig zu vertreten und sie den Jüngeren einzupflanzen. Er tat es im Gefühl hoher Verantwortlichkeit und mit Strenge. Wehe dem Fuchs, der es verdient hatte, in die Kanne zu steigen. Keine fünf Minuten vergingen, und er musste sich an den Wänden hinaustasten. Das Schreckliche geschah, dass einer vor Diederich aus der Tür ging. Seine Buße waren acht Tage Bierverschiss. Nicht Stolz oder Eigenliebe leiteten Diederich: einzig sein hoher Begriff von der Ehre der Korporation. Er selbst war nur ein Mensch, also nichts; jedes Recht, sein ganzes Ansehen und Gewicht kamen ihm von ihr. Auch körperlich verdankte er ihr alles: die Breite seines weißen Gesichts, seinen Bauch, der ihn den Füchsen ehrwürdig machte, und das Privileg, bei festlichen Anlässen in hohen Stiefeln mit Band und Mütze aufzutreten, den Genuss der Uniform! Wohl hatte er noch immer einem Leutnant Platz zu machen, denn die Körperschaft, der der Leutnant angehörte, war offenbar die höhere; aber wenigstens mit einem Trambahnschaffner konnte er furchtlos verkehren, ohne Gefahr, von ihm angeschnauzt zu werden. Seine Männlichkeit stand ihm mit Schmissen, die das Kinn spalteten, rissig durch die Wangen fuhren und in den kurz geschorenen Schädel hackten, drohend auf dem Gesicht geschrieben – und welche Genugtuung, sie täglich und nach Belieben einem jeden beweisen zu können! Einmal bot sich eine unerwartet glänzende Gelegenheit. Zu dritt, mit Gottlieb Hornung und dem Dienstmädchen ihrer Wirtin, waren sie beim Tanz in Halensee. Seit einigen Monaten teilten die Freunde sich eine Wohnung, mit der ein ziemlich hübsches Dienstmädchen verbunden war, machten ihr beide kleine Geschenke und gingen des Sonntags gemeinsam mit ihr aus. Ob Hornung es so weit bei ihr gebracht hatte wie er selbst, darüber hatte Diederich seine privaten Vermutungen. Offiziell und von Verbindungs wegen war es ihm unbekannt.

      Rosa war nicht übel angezogen, auf dem Ball fand sie Bewerber. Damit Diederich noch eine Polka bekam, war er genötigt, sie daran zu erinnern, dass er ihr die Handschuhe gekauft

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