Candide. Voltaire

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Candide - Voltaire Klassiker der Weltliteratur

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meinen Bruder und hauten meine Mutter in Stücke. Als ich sah, was geschehen war, schwanden mir die Sinne. Das wollte einer der Bulgaren offenbar ausnutzen, ein riesiger Kerl, gut seine sechs Fuß hoch. Er begann mich zu vergewaltigen; das brachte mich wieder zu mir. Kaum war ich einigermaßen wach, setzte ich mich zur Wehr: ich schrie, ich schlug um mich, ich biss, ich kratzte, ja, ich hätte ihm am liebsten die Augen ausgekrallt, diesem Riesenvieh von Bulgaren. Ich wusste ja nicht, dass, was da so im Schlosse meines Vaters vorging, dem allgemeinen Kriegsbrauch entspricht. Der Unhold gab mir dann einen Messerstich in die linke Seite, von dem ich noch die Narbe trage.« – »Oh, die möchte ich sehen!«, rief Candide in der ihm eigenen Herzensunschuld. »Das sollt Ihr«, antwortete Kunigunde, »aber lasst mich erst weitererzählen.« – »Ja bitte, erzählt«, sagte Candide.

      Und Kunigunde fuhrt fort: »Plötzlich kam ein bulgarischer Hauptmann ins Zimmer und sah mich blutüberströmt daliegen. Er sprach den Hünen an; der aber ließ sich gar nicht stören. Dieser mangelnde Respekt versetzte den Hauptmann so in Wut, dass er den Rohling noch auf meinem Leibe totschlug. Dann ließ er mich verbinden und führte mich als Gefangene in sein Quartier. Ich wusch ihm die wenigen Hemden, die der besaß, und ich kochte für ihn. Er fand mich sehr hübsch, und, ich will es nicht leugnen, mir gefiel er auch; er war gut gebaut und hatte eine schöne weiße, weiche Haut. Woran es ihm freilich gebrach, war Geist, und Philosophie lag ihm gänzlich fern; ihm fehlte eben, das merkte man gleich, eine gründliche Bildung, wie wir sie von Meister Pangloss empfingen. Es dauerte ein Vierteljahr, da hatte er sein ganzes Geld durchgebracht und mich leid; also verkaufte er mich an einen Juden namens Don Isaschar, der zwischen Portugal und Holland Handelsgeschäfte trieb und immer hinter den Frauen her war. Auch zu mir fasste er große Neigung, aber er vermochte mich nicht zu erobern; ihm habe ich besser widerstanden als dem bulgarischen Soldaten. Jeder Frauensperson kann einmal passieren, dass sie vergewaltigt wird, aber bei einer anständigen festigt es die Tugend für alle Zukunft. Um mich gefügiger zu stimmen, brachte mich der Jude hier in dieses Landhaus. Bis dahin hatte ich geglaubt, es gebe auf Erden nichts Schöneres als Schloss Thundertentronckh; nun aber wurde ich eines Besseren belehrt.

      Eines Tages, als ich in der Messe saß, bin ich dem Großinquisitor aufgefallen. Er beäugelte mich die ganze Zeit, und nachher verlangte er mich zu sprechen, in einer Geheimsache, wie er sagte. Er fragte mich, welchen Standes ich sei; ich offenbarte meine Herkunft. Der Inquisitor fand, es sei doch unter meiner Würde, einem Israeliten anzugehören. Also ließ er Don Isaschar den Vorschlag unterbreiten, dass er mich an Seine Eminenz abtrete. Don Isaschar – immerhin Hofbankier und ein Mann von Einfluss – wollte zuerst nicht. Der Inquisitor drohte ihm mit einem Autodafé. Da bekam mein Jude doch Angst; und man schloß einen Kompromiss, wonach das Haus und ich beiden zur Verfügung stehen sollten: dem Juden montags, mittwochs und am Sabbat, dem Inquisitor an den übrigen Tagen der Woche. Ein halbes Jahr gilt der Vertrag nun schon. Es ging nicht immer ohne Zank ab; so stritt man häufig darüber, ob die Nacht von Samstag auf Sonntag unter das mosaische oder das christliche Gesetz falle. Was mich betrifft, so habe ich bisher keinen der beiden erhört; vermutlich deshalb lieben sie mich noch alle beide.

      Kurze Zeit später haben Seine Eminenz der Großinquisitor dann doch geruht, ein Autodafé zu veranstalten. Erstens wollte er etwas gegen die Erdbeben tun, die uns heimsuchten, zweitens den Juden zu größerer Nachgiebigkeit bewegen. Auch ich wurde mit einer Einladung beehrt. Ich erhielt einen sehr guten Platz; den Damen wurden zwischen Messe und Hinrichtung sogar Erfrischungen gereicht. Und doch packte mich das Grausen, als man vor meinen Augen die beiden Juden verbrannte und den braven Biskayer, der seine Gevatterin geheiratet hatte. Aber das war nichts gegen die Bestürzung, den Schrecken, die Verwirrung, die sich meiner bemächtigten, als ich in einem der Sanbenitos und unter einer der Carochas einen Menschen gewahrte, der unserem Lehrer Pangloss aufs Haar glich. Ich rieb mir die Augen, schaute so scharf hin, wie ich konnte: kein Zweifel, um ihn und keinen anderen handelte es sich, und ich musste erleben, wie man ihn hängte! Ich sank in Ohnmacht, und kaum erlange ich das Bewusstsein wieder, sehe ich Euch vor mir – splitterfasernackt! Wie viel Grauen, Entsetzen, Schmerz und Verzweiflung ich bis dahin auch empfunden haben mag – dies stellte alles in den Schatten. Übrigens, ganz im Vertrauen: Eure Haut ist noch heller und noch feiner getönt als die meines bulgarischen Hauptmanns. Und die so traktiert – dieser Anblick vervielfachte den Jammer, der meine Seele bestürmte, ja zu zerreißen drohte. Ich schrie, ohne Worte zu formen; ich wollte rufen: ›Haltet ein, ihr Barbaren!‹ Aber die Stimme versagte mir, und was hätten meine Rufe schon bewirkt. Und während Ihr dann geprügelt wurdet, fragte ich mich: ›Was ist das bloß für eine Fügung? Da verschlägt es den liebenswerten Candide und den Pangloss ausgerechnet hierher nach Lissabon – und das nur, damit sie leiden! Der eine erhält hundert Peitschenhiebe, der andere wird gar gehängt, und beides auf Befehl Seiner Eminenz des Großinquisitors, dessen Geliebte ich bin. Wahrhaftig, Pangloss hat mich doch grausam getäuscht, als er mich lehrte, die Welt sei bestens eingerichtet!‹

      Aufgewühlt, erschüttert, bald außer mir, bald sterbensmatt, fand ich keine Ruhe. In meinem Hirn jagten sich die Bilder: mein Vater, meine Mutter, mein Bruder niedergemetzelt; der bulgarische Soldat, der so schändlich über mich herfiel und mich mit seinem Messer stach; mein Dienst als Magd und Köchin; mein bulgarischer Hauptmann; mein hässlicher Don Isaschar; mein abscheulicher Inquisitor; der Doktor Pangloss am Galgen; das lange, eintönige Miserere, in dessen Takt Ihr gegeißelt wurdet; und immer aufs Neue jener Kuss, den ich Euch hinter dem Wandschirm gab an jenem Tage, da ich Euch zum letzen Male sah. Ich pries Gott, denn wie hart auch all die Prüfungen waren – nun hatte er Euch mir wiedergeschenkt. Ich befahl der alten Dienerin, die mir von Don Isaschar zugewiesen worden war, sich um Euch zu kümmern und Euch, sobald es geht, hierher zu bringen. Sie hat ihren Auftrag bestens erfüllt. Mir ist die unbeschreibliche Freude vergönnt, Euch wiederzusehen, Eure Stimme zu hören, mit Euch zu sprechen. Aber Ihr müsst doch einen Bärenhunger haben. Ich jedenfalls mag nicht länger warten. Also essen wir erst einmal.«

      Die beiden setzten sich zu Tisch und speisten. Nach dem Souper legten sie sich auf das schöne Sofa, dessen schon Erwähnung getan wurde. Dort lagen sie noch, als Don Isaschar, einer der beiden Hausherren, das Zimmer betrat. Es war nämlich Sabbat, und er kam, um seine Rechte wahrzunehmen und seiner zärtlichen Liebe Ausdruck zu geben.

      NEUNTES KAPITEL

       Was sich weiter begibt mit Kunigunde, Candide, dem Großinquisitor und einem Juden

      Seit der Babylonischen Gefangenschaft hatte es im Volke Israel keinen so jähzornigen Hebräer mehr gegeben wie diesen Isaschar. »Was, du galiläische Hündin!«, schimpfte er. »Reicht dir denn nicht der Herr Inquisitor? Muss ich auch noch mit dem Halunken da teilen?« Sprach’s und zog einen langen Dolch, den er immer bei sich trug, und in der Vermutung, die Gegenseite sei unbewaffnet, stürzte er sich auf Candide. Aber unser braver Westfale hatte von der Alten neben dem vollständigen Anzug auch einen schönen Degen erhalten. Und nun geschah etwas, das wir ihm, dem sanftmütigen Candide, nie zugetraut hätten: flugs zog er seine Klinge – und hast du nicht gesehen lag der Israelit mausetot zu Füßen der schönen Kunigunde.

      »Heilige Jungfrau!«, rief diese, »Jetzt ist alles aus. Ein Toter hier bei mir! Wenn die Polizei kommt, sind wir verloren.« – »Wirklich schlimm, dass sie Pangloss gehängt haben«, meinte Candide; »er wüsste in dieser verfahrenen Lage bestimmt genau, was zu tun wäre. Aber da er leider nicht zur Verfügung steht, sollten wir vielleicht die Alte um Rat fragen.« Die war nun freilich mit allen Wassern gewaschen und wollte auch gleich einen Plan entwickeln, doch kaum hatte sie begonnen, öffnete sich ein weiteres Türchen. Es war inzwischen eine Stunde nach Mitternacht; der Sonntag brach an. Dieser Tag gehörte dem Herrn Großinquisitor. Er trat ein und erblickte erstens Candide, den frisch gestäupten Delinquenten, mit einem Degen in der Hand, zweitens eine Leiche auf dem Boden, drittens Kunigunde, schreckensbleich, und viertens die Alte, die Ratschläge erteilte.

      Versetzen wir uns einen Moment in Candides Kopf, um genau nachzuvollziehen, welche Gedanken ihm nun durchs Gehirn schossen: »Wenn dieser Gottesmann Hilfe herbeiholt, muss ich unweigerlich brennen;

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