Der letzte Überlebende. Sam Pivnik
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Es lag nicht daran, dass ich dreizehn Jahre alt geworden war, wir hatten noch keine Vorstellung davon, Teenager zu sein. Es hatte nichts mit uns zu tun, und doch waren wir darin gefangen. Etwas ging unten in den großen Kasernen vor sich, gleich beim Bahnhof. Leute eilten dorthin, rannten zu zweit oder zu dritt die Straße entlang, murmelten vor sich hin und machten ernste, erregte Gesichter. Wir folgten ihnen.
Ich habe immer gern Soldaten beobachtet, bevor Soldaten für mich auf einmal etwas ganz anderes bedeuteten. Unser Ortsregiment war die 23. Leichte Artillerie, die wie der größte Teil der polnischen Armee noch beritten war. Wir Jungen sahen bei den Paraden auf dem Hauptplatz zu, wenn die glänzenden Stiefel aufs Pflaster schlugen, betrachteten die kakifarbenen Uniformen mit den grünen Schulterklappen und den glänzenden Knöpfen und Abzeichen. Von Zeit zu Zeit verließen sie die Stadt, um Manöver durchzuführen. Dann zogen die Pferde die lackierten Kanonen, und die Räder ratterten über die Steine.
An diesem Tag jedoch war es anders. Nichts war auf Hochglanz poliert, und selbst ein Dreizehnjähriger erkannte die Verzweiflung und Panik. Allerdings sahen wir nicht viel, weil so viele Zuschauer gekommen waren. Wir fragten ein paar Erwachsene, was eigentlich los war, warum dieser Aufruhr? Wir hatten doch schon so oft zugesehen, wenn die Soldaten ins Manöver gezogen waren. Kriegsspiele. Das machten Soldaten eben. Ich erinnere mich bis heute an die Antworten. Ein Mann drehte sich zu uns um und schaute uns mit all der schrecklichen Erfahrung eines langen Lebens an. Er sagte uns, die Deutschen seien einmarschiert. Wir sahen uns verständnislos an. Er versuchte es noch einmal, sagte, jetzt sei Krieg. Keine Reaktion. Er zuckte mit den Schultern und gab es auf. Vermutlich murmelte er eine böse Bemerkung über die Jugend von heute, wie es so viele Generationen schon getan hatten.
Ich blieb wohl bis zum Vormittag dort und beobachtete das Kommen und Gehen, hörte dem Knarzen der ledernen Stiefel zu, dem Schnauben und Wiehern der Pferde, dem Rasseln von Stahl und den gebrüllten Kommandos. Kurz vor Mittag öffneten sich die riesigen Kasernentore, und das Regiment marschierte hinaus. Keine Kapelle, keine Fahnen. Ein paar Leute in der Zuschauermenge jubelten den Soldaten zu, klatschten und winkten. Die Soldaten jedoch sahen ernst und konzentriert aus und starrten nur geradeaus.
Wir beobachteten, wie die Letzten von ihnen um die Ecke am Hauptplatz gingen, dann kehrten wir zu unserem Fußballspiel zurück. Erst nach einer Weile nahmen wir das Geräusch wahr: ein dumpfes Grollen wie Donner in den fernen Karpaten. Aber es wurde lauter. Manchmal hörte man über unsere Rufe und das Geräusch unserer Stiefel, die den Lumpenball trafen, in der Ferne ein Knallen und Krachen. So etwas hatten wir noch nie gehört, keiner von uns. Aber jetzt wussten wir, dass der Krieg nach Będzin kam. Und nichts würde jemals wieder so sein wie früher.
Damals und noch lange danach wussten wir nicht, dass die Deutschen die polnische Grenze um fünf Uhr fünfundvierzig überschritten hatten, während das Morgengrauen wieder einen schönen Tag ankündigte. Eigentlich war der Einmarsch schon für den 25. August geplant gewesen, aber dann hatten sie ihn noch einmal aufgeschoben, um ganz sicher bereit zu sein. Außerdem mussten sie warten, bis „wir“ sie angriffen. Das war natürlich alles nur vorgeschoben. Am Vortag morgens um acht hatten polnische Truppen angeblich einen deutschen Radiosender in Gleiwitz angegriffen, gar nicht weit von Będzin entfernt. Jeder Pole wusste, dass das Unsinn war, aber die meisten Deutschen glaubten die Geschichte. Tatsächlich handelte es sich bei den angeblichen polnischen Angreifern um SS-Leute in gestohlenen Uniformen. Das ganze Fiasko war inszeniert worden, um den Polen die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Es gab keine Kriegserklärung. Nur zivilisierte Länder gaben Kriegserklärungen ab. Die Deutschen gaben dem Angriff den Codenamen „Fall Weiß“ und setzten dreiundfünfzig Divisionen gegen uns ein. Zu dieser Zeit hatten wir dreißig Infanteriedivisionen plus neun in Reserve, elf Kavalleriebrigaden und zwei motorisierte Brigaden, dazu ein paar kleinere Unterstützungseinheiten wie zum Beispiel die Pioniere. Die Armee von Krakau war am 23. März als Stützpfeiler der polnischen Verteidigung gegründet worden. Sie war unsere nächste übergeordnete Einheit und bestand aus fünf Divisionen, einer berittenen Brigade, einer Brigade Gebirgsjäger und einer Brigade Kavallerie. Kommandeur war Oberst Władysław Powierza, sein Vorgesetzter war General Antoni Szylling, der Divisionskommandeur.
An diesem Freitag, als alles begann, wusste ich nichts von alledem, aber bald redeten die Erwachsenen von nichts anderem mehr, und wir schnappten vieles auf. Armeen, Divisionen, Bataillone, Regimenter, Kavallerie, Artillerie – alles nur Wörter, die mir vollkommen unverständlich waren. Als der Nachmittag kam, traten wir immer noch gegen den Ball, aber jetzt hörten wir das Dröhnen von Propellerflugzeugen, die sich von Westen her näherten. Wir wussten, dass die polnische Luftwaffe einen guten Ruf genoss, aber wir hatten sie noch nie in Formation fliegen sehen. Es dauerte eine Weile, bis man seine Augen darauf eingestellt hatte und alles wahrnahm. Dann sahen wir die Welle tarnfarbener Bomber, deren Geschütze in der Sonne blitzten. Als sie die Burg erreichten, teilte sich die Formation, und einige Flugzeuge drehten ab, um verschiedene Teile der Stadt anzugreifen. Jetzt sahen wir die schwarzen Kreuze auf den hellblauen Unterseiten der Tragflächen. Viel später erfuhren wir, dass dies ein erstes Beispiel für die tödliche neue Taktik der Deutschen gewesen war: der „Blitzkrieg“ hatte begonnen. Zuerst kam der Luftschlag, dann das Gemetzel am Boden. Während die Maschinen über uns dröhnten, ahnten wir nicht, dass die Stadt Wieluń (Welun), etwa hundert Kilometer Luftlinie von uns entfernt, bereits bombardiert worden war. Drei Viertel der Häuser waren in Schutt und Asche gelegt, zwölfhundert Menschen waren tot, die meisten von ihnen Zivilisten.
Ich erinnere mich noch an das dumpfe Geräusch, als die ersten Bomben fielen. Sie trafen den Bahnhof mit dem Flachdach und der Jugendstilfassade, schlugen auf Zink und Kupfer und zerstörten die Kommunikationsmittel und die Lebensadern von Będzin. Es ist seltsam: Man hört nicht nur, wenn eine Bombe einschlägt, man spürt es. Die Druckwelle fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Wir spielten weiter, aber weniger selbstsicher als zuvor. Schwarzer Rauch hing über den Türmen der Burg. Die Flugzeuge verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Allmählich begriffen wir alle, dass etwas Schreckliches passiert war, und dachten an unsere Familien. Wir mussten jetzt wirklich nach Hause!
Ich rannte die Modrzejowska hinunter und durch Herrn Rojeckis Torbogen. Meine Mutter und Hendla bereiteten bereits das Sabbat-Essen für den Abend vor, aber von meinem Vater war keine Spur zu sehen. Ich wusste, er war in der Synagoge oder im stibl, gemeinsam mit den anderen Ältesten und dem Rabbi. Irgendwer musste doch wissen, was da vor sich ging, warum uns der totale Krieg überschwemmte. Ich plapperte auf die beiden Frauen ein, erzählte, was ich gesehen hatte, und übertrieb dabei vermutlich schamlos, wie es Dreizehnjährige so tun. Meine Mutter sagte nichts dazu, sie plauderte nur übers Essen und den Sabbat. Instinktiv wusste ich, dass mein Vater an diesem Freitagabend keinen Obdachlosen mitbringen würde, wie sonst so häufig. Vermutlich hatte er meiner Mutter verboten, mit uns über die Ereignisse des Tages zu sprechen. Jahre später erfuhr ich, dass Großbritannien und Frankreich bereits kurz davorstanden, Deutschland den Krieg zu erklären. Der britische Premierminister Neville Chamberlain hatte es im Radio bereits angekündigt. Die Briten evakuierten ihre Kinder vor dem „Blitzkrieg“ aus den Städten, wir erlebten ihn unmittelbar. Für uns war er nicht länger eine abstrakte Bedrohung.
Von unseren Fenstern, die auf den Hof hinausgingen und von denen aus wir Vaters Werkstatt sehen konnten, nahmen wir die Rauchsäulen wahr, die an diesem Abend den Sonnenuntergang verdunkelten. Wir rochen den Brandgeruch in der warmen Luft – nicht den süßen Duft von brennendem Holz, den wir aus dem Garten Eden kannten, sondern einen scharfen, stechenden Geruch, den wir nicht kannten. Wir versammelten uns wie immer um den Tisch, als meine Mutter die Kerzen anzündete, aber es lag keine Freude in unseren Augen. Die Gespräche wirkten gestelzt und angespannt. Nach dem Essen saßen wir da und hörten Vater zu, der aus der Bibel vorlas,