Die Stimme. Bernhard Richter
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Die Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen durch Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923) im Jahr 1895 ermöglichte erstmals Einblicke in den unversehrten Organismus z. B. eines Sängers während des Singens. Radiologische Untersuchungen unter Verwendung von Röntgenstrahlen wurden in stimmphysiologischen Untersuchungen in einem Zeitraum von über 50 Jahren häufig eingesetzt, z.B. von Richard Luchsinger (1900–1993) schon 1949 und von Tom und Mitarbeitern noch 2001 in tomografischen Untersuchungen des Kehlkopfes (Luchsinger 1949; Tom et al. 2001). Mittlerweile ist das Verfahren wegen der möglichen Nebenwirkungen durch die ionisierenden Strahlen in physiologischen Untersuchungen bei Sängern weitgehend von der Magnetresonanztomografie (MRT) (vgl. Kap. 4, S. 74 f.) abgelöst worden (Story et al. 1996).
In das Jahr 1895 fallen ebenfalls die ersten öffentlichen Filmaufführungen durch die Brüder Max und Emil Skladanowsky in Berlin sowie Auguste und Louis Lumière in Paris. Die Verbindung von Ton und Bild, in ersten Anfängen ca. dreißig Jahre später im sogenannten Tonfilm realisiert, ermöglichte in der Folge die Entwicklung von sehr wertvollen Visualisierungsverfahren für die Stimmforschung und hierbei insbesondere die Dokumentation und Nachvollziehbarkeit von Bewegungsabläufen bei der Stimmproduktion.
Sigmund Freud (1856–1939) gelang um die Wende zum 20. Jahrhundert mit seiner Beschreibung innerpsychischer Vorgänge und der Begründung der Psychoanalyse eine ähnlich revolutionäre Entdeckung wie den bisher erwähnten, eher technisch ausgerichteten Forschungspionieren (Gay 1989). Freuds Schriften haben in analoger Weise wie die technischen Errungenschaften einen nachhaltigen Einfluss auf unser heutiges Leben und Wissenschaftsverständnis – auch im Hinblick auf die Gesangskunst (vgl. Kap. 8, S. 161 ff.). Hinsichtlich stimmlicher Äußerungen formulierte er 1917 in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse allgemein:
»Worte waren ursprünglich Zauber, und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt. […] Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander.« (Freud 1917, S. 10)
Schon Charles Darwin (1809–1882) behauptete in seiner 1872 erschienen Schrift »The expression of the emotions in man and animals«:
»[…] dass die Voreltern des Menschen wahrscheinlich musikalische Töne hervorbrachten, bevor sie das Vermögen der artikulierten Sprache erlangt hatten; und dass demzufolge, wenn die Stimme unter irgendeiner heftigen Erregung gebraucht wird, dieselbe vermöge des Prinzips der Assoziation einen musikalischen Charakter anzunehmen strebt.«2
Diese »musikalischen Elemente« der Sprache werden auch als Prosodie (von griech. prosodía, »Zugesang, Nebengesang«) bezeichnet (Meyer-Kalkus 2001). In Anlehnung an die Musikpraxis schrieb Friedrich Nietzsche über den Begriff Prosodie spezifischer:
»Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo mit denen eine Reihe von Wörtern gesprochen wird – kurz, die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann.« (Nietzsche 1980, S. 89)
Garcia und seine direkten Nachfolger konnten nur die groben Bewegungen der Stimmlippen beobachten, da die Frequenzen der Stimmlippenschwingungen beim Singen und Sprechen für die Zeitauflösung des menschlichen Auges zu hoch sind: Sie liegen deutlich oberhalb der Flimmerverschmelzungsfrequenz des menschlichen Sehens von etwa 50 Hz. Die Schwingungen liegen in der mittleren Sprechstimmlage des Mannes bei ca. 100–150 Hz, bei Frauen etwa eine Oktave höher bei ca. 200–250 Hz. In der Singstimme ist der Frequenzbereich, den die menschliche Stimme erreichen kann, sehr breit (vgl. Kap. 3, S. 64). Dies spiegelt sich entsprechend in der Gesangsliteratur wider. So schrieb beispielsweise W. A. Mozart (1756–1791) sowohl eine der tiefsten Basspartien – Osmin in der ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL – als auch eine der höchsten Sopranpartien – Königin der Nacht in der ZAUBERFLÖTE – der Opernliteratur. Wenn der Kammerton beim eingestrichenen a auf 440 Hz festgelegt ist, dann ist der tiefste Ton des Osmin ein großes D = 73 Hz, der höchste Ton der Königin der Nacht ein dreigestrichenes f = 1397 Hz. Wenn also schon die Frequenz dieses tiefen Tones »zu schnell« für das menschliche Auge ist, dann benötigt man zur Visualisierung der Stimmproduktion im Kehlkopf unbedingt eine Technologie zur verlangsamten Darstellung der Schwingungsabläufe.
Exkurs: Stroboskopie
Die technische Möglichkeit zur verlangsamten Darstellung der Schwingungsabläufe liefert die Stroboskopie, welche damit für die weitere Entwicklung der Stimmforschung einen eminent wichtigen Meilenstein darstellt. Obschon sie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfunden worden war (vgl. Kap. 3, S. 71 ff.), wurde sie erst im Jahr 1878 durch Max Joseph Oertel (1835–1897) als Laryngostroboskopie eingesetzt (Oertel 1878). In einzelnen stimmphysiologischen Untersuchungen wandte insbesondere Albert Musehold (1854–1919) die Stroboskopie an, deren Bildmaterial aus heutiger Sicht verblüffend gut ist (Musehold 1897). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Technologie zunehmend in wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt (Luchsinger u. Dubois 1950). Jedoch hielt die Methode erst nach den technischen Verbesserungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Einzug in die allgemeine stimmärztliche Routine. Wichtige Arbeiten wurden hierzu von Elimar Schönhärl (1916–1989) und Volker Barth (1943–2011) geleistet (Schönhärl 1960; Barth 1977). Letzterem gelang es, die Stroboskopie in die Lupenlaryngoskopie zu integrieren und damit nicht nur eine verlangsamte, sondern auch eine optisch vergrößerte Darstellung der Stimmlippen zu erreichen. Auch heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, ist eine computergestützte Stroboskopie in digitaler Aufnahmetechnik aus der angewandten Laryngologie nicht wegzudenken (Dejonckere et al. 2001). Sie hat jedoch den Nachteil, dass sie bisher eine Methode ist, die keine objektiven Messwerte liefert (vgl. Kap. 3, S. 72). Die Beurteilung der in der Stroboskopie erhobenen Befunde erfolgt bisher nicht standardisiert und ist in erheblichem Maße von der Erfahrung des Untersuchers abhängig.
Mit neueren technischen Verfahren wie der Hochgeschwindigkeitsglottografie (vgl. Kap. 3, S. 72) können hier in der Zukunft sicherlich Verbesserungen in der Quantifizierbarkeit und der untersucherunabhängigen Objektivierung der Stimmlippenschwingungen erzielt werden (Richter et al. 2005; Deliyski u. Hillmann 2010).
20. Jahrhundert
Diese technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts ebneten im 20. Jahrhundert den Weg für das für Sänger sehr bedeutsame Forschungsgebiet der Stimmklanganalyse, wie sie u. a. von Willmer T. Bartholomew (1903–1994), Fritz Winckel (1907–2000), Gunnar Fant (1919–2009) und Johan Sundberg im Rahmen der Untersuchungen der Formanten (vgl. Kap. 4, S. 82ff.) entwickelt wurde (Bartholomew 1934; Winckel 1952; Fant 1960; Sundberg 1970). Insbesondere von Sundberg konnte herausgearbeitet werden, dass der Höreindruck der Stimmqualität eines Sängers wesentlich vom sogenannten »Sängerformanten« abhängt (Sundberg 1995; Berndtsson u. Sundberg 1995) (vgl. Kap. 4, S. 86f.).
Durch die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts –