Kritik der reinen Vernunft. Immanuel Kant
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In der Auflösung obiger Aufgabe ist zugleich die Möglichkeit des reinen Vernunftgebrauchs in Gründung und Ausführung aller Wissenschaften, die eine theoretische Erkenntnis a priori von Gegenständen enthalten, mit begriffen, d. i. die Beantwortung der Fragen:
Wie ist reine Mathematik möglich?
Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Von diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, lässt sich nun wohl geziemend fragen, wie sie möglich sind; denn dass sie möglich sein müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen8. Was aberM e t a p h y s i kbetrifft, so muss ihr bisheriger schlechter Fortgang, und weil man von keiner einzigen bisher vorgetragenen, was ihren wesentlichen Zweck angeht, sagen kann, sie sei wirklich vorhanden, einen jeden mit Grund an ihrer Möglichkeit zweifeln lassen.
Nun ist aber dieseA r tv o nE r k e n n t n i sin gewissem Sinne doch auch als gegeben anzusehen, und Metaphysik ist, wenngleich nicht als Wissenschaft, doch als Naturanlage (metaphysica naturalis) wirklich. Denn die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne dass bloße Eitelheit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können, und so ist wirklich in allen Menschen, sobald Vernunft sich in ihnen bis zur Spekulation erweitert, irgendeine Metaphysik zu aller Zeit gewesen und wird auch immer darin bleiben. Und nun ist auch von dieser die Frage: Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich?, d. i. wie entspringen die Fragen, welche reine Vernunft sich aufwirft, und die sie, so gut als sie kann, zu beantworten durch ihr eigenes Bedürfnis getrieben wird, aus der Natur der allgemeinen Menschenvernunft?
Da sich aber bei allen bisherigen Versuchen, diese natürlichen Fragen, z. B. ob die Welt einen Anfang habe oder von Ewigkeit her sei, usw. zu beantworten, jederzeit unvermeidliche Widersprüche gefunden haben, so kann man es nicht bei der bloßen Naturanlage zur Metaphysik, d. i. dem reinen Vernunftvermögen selbst, woraus zwar immer irgendeine Metaphysik (es sei, welche es wolle) erwächst, bewenden lassen, sondern es muss möglich sein, mit ihr es zur Gewissheit zu bringen, entweder im Wissen oder Nicht-Wissen der Gegenstände, d. i. entweder der Entscheidung über die Gegenstände ihrer Fragen oder über das Vermögen und Unvermögen der Vernunft, in Ansehung ihrer etwas zu urteilen, also entweder unsere reine Vernunft mit Zuverlässigkeit zu erweitern oder ihr bestimmte und sichere Schranken zu setzen. Diese letzte Frage, die aus der obigen allgemeinen Aufgabe fließt, würde mit Recht diese sein: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?
Die Kritik der Vernunft führt also zuletzt notwendig zur Wissenschaft; der dogmatische Gebrauch derselben ohne Kritik dagegen auf grundlose Behauptungen, denen man ebenso scheinbare entgegensetzen kann, mithin zumS k e p t i z i s m u s.
Auch kann diese Wissenschaft nicht von großer abschreckender Weitläufigkeit sein, weil sie es nicht mit Objekten der Vernunft, deren Mannigfaltigkeit unendlich ist, sondern bloß mit sich selbst, mit Aufgaben, die ganz aus ihrem Schoße entspringen und ihr nicht durch die Natur der Dinge, die von ihr unterschieden sind, sondern durch ihre eigene vorgelegt sind, zu tun hat; da es denn, wenn sie zuvor ihr eigen Vermögen in Ansehung der Gegenstände, die ihr in der Erfahrung vorkommen mögen, vollständig hat kennen lernen, leicht werden muss, den Umfang und die Grenzen ihres über alle Erfahrungsgrenzen versuchten Gebrauchs, vollständig und sicher zu bestimmen.
Man kann also und muss alle bisher gemachten Versuche, eine Metaphysikd o g m a t i s c hzustande zu bringen, als ungeschehen ansehen; denn was in der einen oder der anderen Analytisches, nämlich bloße Zergliederung der Begriffe, ist, die unserer Vernunft a priori beiwohnen, ist noch gar nicht der Zweck, sondern nur eine Veranstaltung zu der eigentlichen Metaphysik, nämlich seine Erkenntnis a priori synthetisch zu erweitern, und ist zu diesem untauglich, weil sie bloß zeigt, was in diesen Begriffen enthalten ist, nicht aber, wie wir a priori zu solchen Begriffen gelangen, um danach auch ihren gültigen Gebrauch in Ansehung der Gegenstände aller Erkenntnis überhaupt bestimmen zu können. Es gehört auch nur wenig Selbstverleugnung dazu, alle diese Ansprüche aufzugeben, da die nicht abzuleugnenden und im dogmatischen Verfahren auch unvermeidlichen Widersprüche der Vernunft mit sich selbst jede bisherige Metaphysik schon längst um ihr Ansehen gebracht haben. Mehr Standhaftigkeit wird dazu nötig sein, sich durch die Schwierigkeit innerlich und den Widerstand äußerlich nicht abhalten zu lassen, eine der menschlichen Vernunft unentbehrliche Wissenschaft, von der man wohl jeden hervorgeschossenen Stamm abhauen, die Wurzel aber nicht ausrotten kann, durch eine andere, der bisherigen ganz entgegengesetze Behandlung endlich einmal zu einem gederblichen und fruchtbaren Wuchse zu befördern.
VII. Idee und Einteilung einer besonderen Wissenschaft unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft
Aus diesem allen ergibt sich nun die Idee einer besonderen Wissenschaft, dieK r i t i kd e rr e i n e nV e r n u n ftheißen kann. Denn Vernunft ist das Vermögen, welches dieP r i n z i p i e nder Erkenntnis a priori an die Hand gibt. Daher ist reine Vernunft diejenige, welche die Prinzipien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält. EinO r g a n o nder reinen Vernunft würde ein Inbegriff derjenigen Prinzipien sein, nach denen alle reinen Erkenntnisse a priori können erworben und wirklich zustande gebracht werden. Die ausführliche Anwendung eines solchen Organon würde ein System der reinen Vernunft verschaffen. Da dieses aber sehr viel verlangt ist und es noch dahin steht, ob auch hier überhaupt eine Erweiterung unserer Erkenntnis und in welchen Fällen sie möglich sei, so können wir eine Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen, als dieP r o p ä d e u t i kzum System der reinen Vernunft ansehen. Eine solche würde nicht eineD o k t r i n,sondern nurK r i t i kder reinen Vernunft heißen müssen, und ihr Nutzen würde in Ansehung der Spekulation wirklich nur negativ sein, nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Erweiterung unserer Vernunft dienen, und sie von Irrtümern freihalten, welches schon sehr viel gewonnen ist. Ich nenne alle Erkenntnist r a n s z e n d e n t a l,die, sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würdeT r a n s z e n d e n t a l - P h i l o s o p h i eheißen. Diese ist aber wiederum für den Anfang noch zu viel. Denn weil eine solche Wissenschaft sowohl die analytische Erkenntnis als die synthetische a priori vollständig enthalten müsste, so ist sie, so weit es unsere Absicht betrifft, von zu weitem Umfange, indem wir die Analysis nur so weit treiben dürfen, als sie unentbehrlich notwendig ist, um die Prinzipien der Synthesis a priori, als warum es uns nur zu tun ist, in ihrem ganzen Umfange einzusehen. Diese Untersuchung, die wir eigentlich nicht Doktrin, sondern nur transzendentale Kritik nennen können, weil sie nicht die Erweiterung der Erkenntnisse selbst, sondern nur die Berichtigung derselben zur Absicht hat und den Probierstein des Werts oder Unwerts aller