Weihnachtserzählungen. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Weihnachtserzählungen - Charles Dickens страница 16
Der Geist verweilte nicht hier, sondern bat Scrooge, sich an seinem Kleid festzuhalten, und schwebte mit ihm über die Heide – wohin wohl? Doch nicht auf die See? Ja, auf die See! Als Scrooge zurückschaute, sah er zu seinem Schrecken die letzte Landspitze, einen wüsten Felsengürtel, weit hinter sich, und seine Ohren wurden betäubt vom Donnern der Wogen. In den schaurigen Höhlen, die sie ausgewühlt hatten, rollten, grollten und brüllten sie und suchten gierig die Erde zu untergraben.
Auf dem ungastlichen Riff einer unsichtbaren Klippe, einige Meilen vor der Küste, an die das Wasser jahraus, jahrein schäumte und toste, stand ganz allein ein Leuchtturm. Große Büschel Tang hingen an seinem Fuß, und Sturmvögel – man hätte sie für Kinder des Windes halten mögen wie den Tang für ein Kind des Wassers – stiegen und fielen um ihn herum gleich den Wellen, die sie streiften.
Aber selbst hier hatten die zwei Männer, die das Licht bewachten, ein Feuer angezündet, das durch das Guckloch in der dicken Steinmauer einen glänzenden Strahl auf die furchtbare See warf. Über den rauhen Tisch hin, an dem sie saßen, reichten sie sich die schwieligen Hände und wünschten sich bei ihrer Kanne Grog fröhliche Weihnachten; und einer von ihnen, noch dazu der ältere, dessen Gesicht vom rauhen Wetter gefurcht und zerrissen war wie die Galionsfigur eines alten Schiffes, stimmte einen kernigen Gesang an, der selber wie Windgebraus klang.
Weiter zog der Geist über die schwarze, wogende See hin, bis sie sich weit, weit vom Ufer entfernt, wie er Scrooge mitteilte, auf ein Schiff herniedersenkten. Sie standen neben dem Steuermann am Rad, neben dem Ausguckposten im Mastkorb, neben den Offizieren, die die Wache hatten – lauter dunklen, geisterhaften Gestalten, die ihren verschiedenen Dienst versahen; aber jeder von ihnen summte ein Weihnachtslied oder hatte einen Weihnachtsgedanken oder sprach leise mit seinem Kameraden von irgendeinem vergangenen Weihnachtstag und den heimlichen Hoffnungen auf Heimkehr, die sich damit verknüpften. Und jeder Mann an Bord, ob wach oder schlafend, gut oder schlimm, hatte heute ein freundlicheres Wort für seine Gefährten gehabt als an irgendeinem andern Tag des Jahres, hatte bis zu einem gewissen Grad an seiner Feier teilgenommen, hatte derer in der Ferne gedacht, die er liebte, und gewußt, daß sie gern an ihn dachten.
Während Scrooge dem Stöhnen des Windes lauschte und darüber nachsann, wie feierlich es sei, so durch die einsame Finsternis über unbekannte Abgründe zu fahren, deren Tiefen so tief und geheimnisvoll waren wie der Tod, war es für ihn eine große Überraschung, mitten in diesen Gedanken ein herzliches Lachen zu hören. Und seine Überraschung war noch viel größer, als er es als das Lachen seines Neffen erkannte und sich in einem hellen, trockenen Zimmer wiederfand. Der Geist stand lächelnd neben ihm und betrachtete diesen selben Neffen beifällig und freundlich.
»Ha ha!« lachte Scrooges Neffe, »ha ha ha!«
Wenn du durch einen unwahrscheinlichen Zufall einen Mann kennenlernen solltest, der noch besser lachen kann als Scrooges Neffe, so kann ich nur sagen, daß ich ihn gleichfalls kennenlernen möchte! Führ ihn bei mir ein, und ich will seine Bekanntschaft pflegen.
Es ist eine schöne, ausgleichende, edle Einrichtung, daß, so ansteckend auch Krankheit und Kummer sein mögen, doch nichts so unwiderstehlich um sich greift wie Lachen und gute Laune. Als Scrooges Neffe so sehr lachte, daß er sich die Seiten hielt, mit dem Kopf wackelte und sein Gesicht zu den ausgefallensten Grimassen verzog, da mußte seine Gattin, Scrooges angeheiratete Nichte, ebenso herzlich lachen wie er. Und ihre versammelten Freunde blieben kein bißchen hinter ihnen zurück und lärmten lustig los.
»Ha ha! Ha ha ha ha!«
»So wahr ich lebe«, rief Scrooges Neffe, »Possen nannte er Weihnachten! Und er glaubt es wirklich!«
»Um so beschämender für ihn, Fred!« rief Scrooges Nichte entrüstet. Gott segne diese Frauen! Nie tun sie etwas halb, stets ist’s ihnen ernst.
Sie war hübsch, auffallend hübsch. Sie hatte ein reizendes, immer erstauntes Gesicht mit Grübchen in den Wangen, einen frischen kleinen Mund, der ganz zum Küssen geschaffen schien – und zweifellos auch geküßt wurde –, sie trug alle Arten hübscher kleiner Flecken um ihr Kinn, die ineinanderflossen, wenn sie lachte, und hatte das sonnigste Paar Augen, das ihr je im Kopf eines kleinen Geschöpfs gesehen habt. Alles in allem war sie, was man herausfordernd nennen könnte, ihr wißt schon! Aber dabei wohltuend, durch und durch wohltuend.
»Er ist ein komischer alter Kauz«, sagte Scrooges Neffe, »das muß wahr sein, und nicht so nett, wie er sein könnte. Aber schließlich rächen sich seine Fehler an ihm selbst, und ich habe nichts gegen ihn.«
»Er ist sicherlich sehr reich, Fred«, meinte Scrooges Nichte. »Wenigstens hast du mir das immer gesagt.«
»Was bedeutet das, Liebe?« fragte Scrooges Neffe. »Sein Reichtum nützt ihm nichts. Er tut nichts Gutes damit. Er gönnt sich selbst nichts. Er hat nicht einmal die Befriedigung, sich vorzustellen, daß er einmal uns einen Gefallen damit tun wird – ha ha ha!«
»Ich habe keine Nachsicht mit ihm«, bemerkte Scrooges Nichte, und ihre Schwestern und alle übrigen Damen stimmten ihr zu.
»Oh, ich schon!« sagte Scrooges Neffe. »Er tut mir leid; ich könnte ihm nicht böse sein, auch wenn ich’s versuchte. Wer leidet unter seinen törichten Launen? Immer er selbst! Da hat er sich’s in den Kopf gesetzt, uns nicht leiden zu können, und darum will er nicht kommen und bei uns speisen. Was ist die Folge? Er verliert nicht viel an einem Mittagessen.«
»Na«, unterbrach ihn seine Gattin, »ich denke, er verliert ein sehr gutes Mittagessen!« Alle anderen behaupteten dasselbe, und man mußte sie als kompetente Richter gelten lassen, da sie soeben das Mittagsmahl verzehrt hatten und nun mit dem Nachtisch vor sich bei Lampenlicht um den Kamin versammelt waren.
»Nun, es freut mich, das zu hören«, versetzte Scrooges Neffe, »weil ich nun einmal kein großes Vertrauen zu diesen jungen Hausfrauen habe. Was meinst du, Topper?«
Topper hatte sichtlich ein Auge auf eine der Schwestern von Scrooges Nichte geworfen, denn er behauptete, ein Junggeselle sei ein unwürdiger Ausgestoßener, der kein Recht habe, über diesen Gegenstand eine Meinung abzugeben. Darüber errötete eine dieser Schwestern, und zwar die dicke mit dem Spitzenhalstuch, nicht die mit den Rosen im Haar.
»Vorwärts, Fred«, rief Scrooges Nichte und klatschte in die Hände. »Er wird nie mit dem fertig, was er zu sagen beginnt. Er ist ein zu drolliger Kauz.«
Scrooges Neffe brach wieder in Lachen aus, und da es unmöglich war, der Ansteckung zu entgehen, obwohl es seine dicke Schwägerin mit Würzessig versuchte, folgte man einmütig seinem Beispiel.
»Ich wollte vorhin nur sagen«, fing Scrooges Neffe von neuem an, »seine Abneigung gegen uns und seine Weigerung, mit uns lustig zu sein, bringt ihm meines Erachtens nur das ein, daß er ein paar vergnügte Augenblicke versäumt, die ihm nichts schaden könnten. Ich bin überzeugt, er verliert eine lustigere Gesellschaft, als er sie in seinen eigenen Gedanken oder in seinem verschimmelten alten Kontor oder in seinen staubigen Zimmern finden kann. Ich will ihm jedes Jahr die gleiche Gelegenheit bieten, ob er sie nun nutzt oder nicht, denn er tut mir leid. Mag er auch über Weihnachten spotten, bis er stirbt, so behaupte ich ihm zum Trotz, daß er davon eine bessere Meinung einfach noch gewinnen muß, wenn er mich Jahr für Jahr gutgelaunt erscheinen sieht