Faust oder Mephisto?. Willi Jasper

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Faust oder Mephisto? - Willi Jasper

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in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Gerade einmal 12 Prozent glauben noch, dass das System ihnen nützt und sie von einer wachsenden Wirtschaft ausreichend profitieren. Dagegen sind volle 55 Prozent der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schadet als hilft.« Schon 2018 hatte Oxfam, der unabhängige Verbund internationaler Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, als prinzipielle Ursache für die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm das derzeitige Wirtschaftssystem angeprangert. Demnach besitze das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen als die anderen 99 zusammen.

      Also ungleiche Vermögensverteilung und Lebenschancen. Angesichts solcher Verhältnisse betrachtet der Philosoph und Wirtschaftsethiker Christian Neuhäuser den »Reichtum als moralisches Problem« (2018). Für ihn ist der Kampf gegen extreme finanzielle Ungleichheit eine transnationale Aufgabe »weil die ökonomische Abhängigkeit der Staaten vom internationalen Kapital zu groß« sei. Das gehe »nur auf europäischer Ebene«, denn er sehe »im Moment keine andere Weltregion, mit der man einen solchen Diskurs führen könnte«. Aber kommt jemals die Sozial- und Transferunion?

      Das große Brennglas, die Lupe auf den Schwären unterlassener Hilfeleistungen der Intellektuellen ist, was wir gerade sehen, wenn es um die aktuelle Corona-Krise geht. Mit ihr scheinen nicht nur für Europa, sondern für alle Demokratien der Welt, finstere Zeiten angebrochen zu sein. »Wohin man sieht«, so der Tagesspiegel-Redakteur Gregor Dotzauer im April 2020, »zehrt ein Regime angeblicher und tatsächlicher Sachzwänge die Handlungsspielräume auf. Virologische und epidemiologische Experten geben Politikern alternativlose Lösungen vor (oder werden von der Politik in diesem Tenor vorgeschoben), und die kontrollierenden Gremien Europas drücken bei verfassungsrechtlichen Bedenken beide Augen zu – wenn mit einem Notstandsgesetz wie in Ungarn die Gewaltenteilung nicht gleich ausgehebelt wird. Technokratisch-exekutive Strukturen rücken an die Stelle demokratischer Strukturen. Es gibt nicht wenige, die darin ein dem historischen Augenblick angemessenes Rezept erblicken. Und dennoch wäre nichts gefährlicher, als eine Demokratiedämmerung auszurufen.« Man sollte nicht so tun, »als hätten wir über Nacht ein Paralleluniversum betreten, das eine neue Moral erfordert.« Das gelte nicht nur für einzelne Nationalstaaten, sondern für ganz Europa und die übrige Welt. Wenn man in früheren Krisensituationen »in Bezug auf die Brüsseler Verordnungswut zu Recht von technokratischen Exzessen sprechen konnte«, dürfe man es »auch in Corona-Zeiten« tun. Was Jürgen Habermas im Titelessay seines Buches »Im Sog der Technokratie« (2013) als »Prüfsteine einer europäischen Solidarität« benannt habe, zähle nach wie vor, nur eben »in existentiell verschärfter Form«. Wenn es darum gehe, sowohl ein funktionierendes Gesundheitssystem, eine stabile Wirtschaft und demokratische Freiheitsrechte aufrechtzuerhalten, müsse das politisch und nicht technokratisch ausgehandelt werden. Experten hätten dabei ein gewichtiges Wort mitzureden. Nur müsse man sich von der Idee verabschieden, dass sie eine von der Politik unabhängige Klasse seien. Das gilt nicht nur für Ökonomen, Naturwissenschaftler und Mediziner, sondern auch für Philosophen und Kulturexperten.

      Der französische Essayist und Moralist Julien Benda warf 1927 seinen »intellektuellen« Kollegen (Schriftstellern wie Philosophen) vor, sie hätten ihren Berufsstand verraten, weil sie sich nationalistischen Positionen angepasst hätten. Wahre Intellektuelle würden die politischen Machthaber mit der universalen und zeitlosen Wahrheit des Geistes konfrontieren. Und Albert Camus legte 1945 den Intellektuellen die »Verteidigung der Intelligenz« nahe. Man müsse nach der Weltkriegskatastrophe »unser politisches Denken erneuern«. Das bedeute, »dass wir den Geist bewahren müssen«. Denn er war überzeugt, dass darin »der Kern des Problems« lag.

      Das könnte, auf heute übertragen, bedeuten, dass Intellektuelle unter den ganz anderen Gegebenheiten in Europa im 21. Jahrhundert auch die aktuelle Krisensituation vor dem Hintergrund demokratischer Werte gründlich falsch verstehen. Sie können selbst zu fanatischen Nationalisten werden oder den aufkommenden antieuropäischen Geist indirekt fördern, indem sie ihn negieren. Oder sie versagen als Intellektuelle, wenn sie die Ungerechtigkeit und Strenge von staatlichen Maßnahmen in der Medizin, Sozial- und Finanzpolitik nicht hinterfragen. Das Verhalten von Politikern, Behörden und Bürgern (einschließlich der meisten Intellektuellen) in der Corona-Krise offenbart, dass der fatale Hang der Menschen zur »Gefolgschaft« durch Aufklärung und Nachkriegszeit nicht überwunden ist. Das Verhältnis zwischen Bedrohung, Angst und dem Sicherheitsversprechen des Staates sei heikel, erklärte der Historiker Paul Nolte in der »Frankfurter Rundschau«. In dieser Hinsicht erlebe er einen »irritierenden« Konformismus. »Wie viele Prominente, Intellektuelle und Kirchenführer stellen sich hin und sagen: ›Liebe Leute, haltet euch an Maßnahmen, die die Bundeskanzlerin verkündet hat.‹ Wir brauchen aber auch in einer solchen Situation eine lebendige und kritische Zivilgesellschaft. Wir brauchen streitbare Intellektuelle, die der Politik widersprechen, andere Szenarien entwickeln. Wo ist eigentlich die Linke, die müsste diese Diskurse doch jetzt führen.« (April 2020)

      Die Linke und ihre Intellektuellen hielten sich weitgehend zurück. Schlagzeilen und Titelseiten der meisten Medien waren geprägt von Politikerporträts und Botschaften des Corona-Gehorsams. Es gab kaum kontroverse Diskussionen, weil in der Öffentlichkeit nahezu kollektiv aufs Denken zugunsten von Expertenmeinungen verzichtet wurde. Es sei bemerkenswert, dass über 90 Prozent der Deutschen die Maßnahmen gegen das Corona-Virus befürworten, monierte der Philosophieprofessor Markus Gabriel in einem Deutschlandfunk-Gespräch. Es sei eigentlich »verdächtig, wenn solche Einigkeit« herrsche. Eigentlich gebe es eine Pflicht dazu, widerstreitende Meinungen einzuholen. Doch durch die hohe Infektionsgefahr würden nun andere Regeln gelten. Diese Einigkeit berge aber Gefahren, denn es sei ja durchaus möglich, dass die derzeitigen Maßnahmen auch das Gesundheitssystem gefährdeten. Gesundheitliche Präventionsmaßnahmen blieben schließlich auf der Strecke und auch die wirtschaftlichen Folgen könnten sich im Gesundheitssystem niederschlagen. Es sei daher sehr zu begrüßen, dass inzwischen auch kritische Stimmen zu den Maßnahmen aufgetaucht seien. Eine »sehr gefährliche Maßnahme« sei das Tracking von Handydaten: »Warum tun wir etwas, das wir vorher eigentlich für moralisch verwerflich hielten, nämlich Maßnahmen einer soften Cyberdiktatur einführen?« In einigen Staaten, wie zum Beispiel Ungarn, sei bereits klar zu sehen, dass der Ausnahmezustand »als Deckmantel für undemokratische Maßnahmen« genutzt werde. Man dürfe das Corona-Virus zudem nicht nur als medizinisches Problem begreifen – auch wenn es das natürlich hauptsächlich sei. Denn das Virus sei auch »ein hochkomplexes soziales Problem, das alle Dimensionen des Menschseins« anspreche. Es brauche daher »sozial- und geisteswissenschaftliche Methoden« zur Untersuchung. Wenn man die Perspektiven dieser wissenschaftlichen Schulen ausklammere, laufe man Gefahr, dass »wir uns als Menschen nur noch sehen als potenzielle Virenträger, und das wäre natürlich ein gefährliches einseitiges Menschenbild«. Man könne politische Entscheidungen nicht alleine naturwissenschaftlich oder technisch rechtfertigen. Ein derartiger »Wissenschaftsglauben« sei genauso falsch wie die Wissenschaftsskepsis von Populisten wie Donald Trump. »Wir müssen«, so Gabriel, »Subjektivität und Objektivität ins richtige Verhältnis setzen, und das kann man nicht durch die Wissenschaft alleine.«

      Angesichts der globalen Auswirkungen der Corona-Krise gibt es keine nationalstaatlichen Lösungen. In dieser Situation ist vor allem europäische Solidarität notwendig. Das Virus trifft in der EU auf gesellschaftliche Infrastrukturen, die bereits von einer langen Phase scharfer Autoritätspolitik erschöpft sind. In der auf den Finanzcrash von 2007/2008 folgenden Krise setzten EU-Kommission und Europäische Zentralbank alles daran, die Banken und andere Marktakteure als systemrelevant zu deklarieren und mit hohen Milliardenbeträgen zu retten. Öffentliche Ausgaben für Sozialbereiche wurden abgelehnt, da sie das Wachstum bremsen würden. Nach neoliberalen Vorgaben wurden öffentliche Budgets zusammengestrichen, was vor allem auch die Gesundheitssysteme betraf. Hauptleidtragender war damals bekanntlich Griechenland, dessen staatliche Mittel auf 8 Milliarden Euro halbiert wurden. Zehntausende von Ärzten und Angestellte des Gesundheitswesens wurden entlassen, fast ein Drittel der Krankenhäuser geschlossen. Verantwortlich für die harten Kürzungsbedingungen war vor allem die deutsche Regierung. Auch in der aktuellen Corona-Krise blockierte die stärkste Wirtschaftsmacht der EU lange Zeit finanzielle Hilfsprogramme für notleidende Länder. Um die Vergemeinschaftung

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