Die Schwachen zuerst. Reimer Gronemeyer

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Die Schwachen zuerst - Reimer Gronemeyer

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in der Vorstellung einiger Superreicher, sie könnten dem Sumpf des ruinierten Planeten entfliehen, indem sie sich, wenn hier Schluss ist, mit Raketen in ein planetarisches Exil retten – auf irgendeinen neuen Planeten vielleicht. Es ist ein irrsinniger Plan, aber ein interessantes Gedankenexperiment, das kein Geringerer als Stephen Hawking zuerst propagiert hat. Elon Musk, der Tesla-Chef, will 2024 eine erste bemannte Raumfähre zum Mars schicken, um dort eine Stadt für eine Million Menschen zu bauen. In erster Linie für Personen, die sich das leisten können.7 In all dem wächst das Phänomen der Verabschiedung von der Idee der Gemeinschaft und der Verantwortung: Die Menschen auf der Flucht, die Hungernden, die Schwachen werden nicht mehr wahrgenommen als eine Aufgabe für die, die besser dran sind. Auch da hat die Coronakrise die Richtung gezeigt: Mit unfassbarer Geschwindigkeit wurden in Deutschland, Österreich und Frankreich Triagekonzepte ausgearbeitet: Wer kriegt ein Beatmungsgerät und wer nicht? Die Schwachen haben das Nachsehen. Und weltweit sind Prozesse der Absage an gemeinsame Verantwortung zu beobachten: Jait Bolsonaro, der brasilianische Präsident, lässt den Amazonas-Urwald abfackeln. Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, bleibt erbarmungslos gegen minderjährige Flüchtlinge in den Lagern an seinen Grenzen. Wir gewöhnen uns vielleicht zu schnell daran: Dass die Hoffnung zerstört wird – die Hoffnung, dass Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit eines Tages die Welt durchsäuert haben werden. Die Hoffnung, dass der Hunger aufhört und Ungerechtigkeit ausgelöscht sein wird, hat über uns geschwebt. Diese Hoffnung ist zur Illusion degradiert, sie ist abgestürzt und das damit verbundene Lebensgefühl zerbrochen.

       Wie die Schwachen zu den ersten Opfern der Pandemie wurden

      „Triage, das ist wie früher beim Autoquartett. Da heben wir auch alle unsere Karten auf den Tisch gelegt und verglichen: Wer hat den größten Hubraum, wer hat am meisten PS, wer fährt am schnellsten …“ So sieht das ein Oberarzt der Orthopädie im Zusammenhang mit der Coronakrise. Triage fragt bei der Einteilung von Verletzten im Krieg nach der Schwere der Verletzungen. Wer wird behandelt und wer nicht – wenn die Lazarettmöglichkeiten begrenzt sind? Allein die Vorstellung, es könne nicht genügend Intensivbetten geben, hat in der Coronakrise das Thema Triage auf den Tisch gebracht. Vorschläge nach dem Muster des Autoquartetts wurden eilig, ja eilfertig gemacht. Dialysepatienten, chronisch Herzkranke und Menschen mit Demenz sollen im Zweifelsfall zuerst aus der Intensivbehandlung genommen werden. In der Kaufmannsprache wird auch von „Triage“ gesprochen, und es ist damit der Ausschuss bei Kaffeebohnen gemeint. Um Ausschuss also geht es. Die Schwachen zuerst: Das droht, wenn es um das Aussortieren geht. Solange die Leistungsgesellschaft gut dasteht, werden die Alten gehätschelt, die Behinderten in die Inklusion gelockt und die Kranken mit medizinischen Möglichkeiten zugeschüttet. Kommt die Krise, dreht sich der Wind. Die Kernbotschaft der Leistungsgesellschaft liegt dann wieder offen auf dem Tisch: Eigentlich gehört nur dazu, wer leistet. Wie das Wort „Leistungsgesellschaft“ schon sagt: Wer nichts leistet, lebt eigentlich nicht. Die Leistungsgesellschaft und ihre Schwachen: Das ist ein heikles Bündnis. Es hält nur solange, wie die Sonne der Wohlstandsgesellschaft scheint. Die Coronakrise zeigt es und die nächste Krise, die kommt, die Klimakrise, wird die fragile Situation der Schwachen erst recht sichtbar machen.

      Schauen wir zurück auf diese Pandemie, die mit dem Coronavirus über uns gekommen ist. Sie hat in die Betriebsamkeit der globalen Wirtschaft und der globalen Lebensverhältnisse mit nie erfahrener Radikalität eingegriffen. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Den alten Spruch der Arbeiterbewegung hat ein Virus, der mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist, in die Tat umgesetzt. Und alles, was wir für unmöglich gehalten haben, geschah über Nacht vor unseren Augen. Schluss mit der Mobilität. Schluss mit dem Konsum. Die Natur atmete auf. Eine Wirtschaftskrise ist die Folge gewesen. Verzweiflung und Hoffnung waren da. Die Verzweiflung all derer, die ihre Existenzgrundlage verloren haben, die Hoffnung all derer, die auf einen Neuanfang setzten. Eine erstaunliche, weltweite Entschlossenheit war zu erkennen. Solidaritäten wurden in allen Ecken und allen Enden sichtbar. Und nach dem Ende der Pandemie kommt das große Aufatmen? Vieles hat die Pandemie verändert. Neue Gemeinschaftlichkeiten sind entstanden. Aber übersehen wurde (bisweilen), dass die Schwachen die dunklen Konsequenzen zuerst erfahren haben. Und zugleich gilt das Umgekehrte: Die Schwachen wurden für die, die das hören wollten, zum Leuchtturm: Sie gaben Orientierung in der Frage: In welche Richtung wollen wir uns bewegen? Werden die die Zukunft bestimmen, die die Spaltung zwischen stark und schwach vorantreiben, oder werden die Schwachen zum Salz in der Suppe? In der Coronakrise wurde die Ouvertüre zu dieser Oper gespielt. Die erwartbaren ökonomischen Krisen und insbesondere die Folgen des Klimawandels werden es zutage bringen: Welche Gesellschaft kriegen wir? Welche Gesellschaft wollen wir? Die Kraft einer Gesellschaft misst sich an der Frage, ob sie die Welt aus der Perspektive der Schwachen versteht oder ob sie diese Schwachen als Störung, als Nebensache, als Unkraut behandelt. Die Schwachen zuerst also.

      Die Schwachen sind nicht die Schädiger. Sie sind oft und schnell Opfer der Verwüstungen, aber selten haben sie den Willen und die Macht, die Welt in Trümmer zu legen. Vielleicht muss man die berühmte und bekannte Geschichte, die Walter Benjamin erzählt, neu erzählen? Walter Benjamin kommentiert ein Bild von Paul Klee, das „Angelus Novus“ genannt ist. Die aquarellierte Zeichnung ist 1920 entstanden. Klee hat eine Reihe von Engeln gezeichnet, die – wie er sagt – sich erst im „Vorzimmer der Engelschaft“ befinden. Angelus Novus: Ein übergroßer Kopf ist zu sehen, angedeutete Flügel, die Haare sehen aus wie lockig eingerollte Papierstreifen, zugleich wirken sie, als wären sie vom Sturm zerzaust.8 Walter Benjamin schreibt zu dem Angelus Novus: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“9

      Der Angelus Novus ist dem Sturm wehrlos ausgeliefert. Er ist kein Sieger. Vielleicht spüren wir in den Coronazeiten deutlicher als sonst, dass wir einem Sturm, der uns vor sich hertreibt, ausgeliefert sind? Dass wir auf Trümmer schauen, die wir nicht zusammenzufügen imstande sind? Und dass dieses Corona-Unheil zu einer Geschichte der Zerstörung gehört, an der wir mitgewirkt haben? Haben wir nicht allen Lebewesen ihre Heimat, ihre Orte, ihre Zuflucht genommen? Ob das nun stimmt, dass das Virus von einem Wildtiermarkt in Wuhan stammt oder nicht: Irgendetwas Kleines, Unsichtbares, Virusartiges legt uns lahm. Der Krieg gegen das Virus, den wir führen, setzt das Muster fort, das wir gewohnt sind: Unterwerfung, Kontrolle. Mit welcher Vehemenz jetzt Bundesminister, Ministerpräsidentinnen und Virologen davon sprechen, dass die Schwächsten zuerst geschützt werden müssten, dort müsse das Isolieren, das Kontrollieren, das Impfen beginnen: Setzt sich da das alte Muster fort, das Muster der Stärke, das Kriegsmuster, mit dem wir den Planeten ja schon überzogen haben? Ja, die Schwachen müssen zuerst geschützt werden. Aber ihre Stimme darf damit nicht zum Schweigen gebracht werden, eine Stimme, die flüstert: Wäre nicht etwas anderes dran? Würdet ihr auf uns hören …

      Vielleicht können die Schwachen verstanden werden als eine Art Antimaterie in der Gesellschaft der Starken? Vielleicht sind sie der flackernde Vorschein einer konvivialen Gesellschaft, in der Selbstbegrenzung zur Grundmelodie wird? Die Schwachen als Symbol, Signal, Verkörperung einer neuen Orientierung?

      Der chinesische Philosoph Laotse, der im 6. Jahrhundert vor Christus gelebt haben soll, hat gesagt:

       „Das Sanfteste auf Erden

      besiegt das Härteste

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