Die Faxen Dicke. Reiner Hänsch
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Direkt am Nebentisch vegetiert eine Familie vor sich hin, die sämtlich zusammengesackt vor den Herrlichkeiten des Frühstücks hockt und still und verzweifelt alles in sich hineinmampft. Das männliche Leittier dieser Gruppe taucht, tief auf seinen haarigen Arm gestützt, fast mit dem Gesicht ins Rührei und schlürft es laut und unappetitlich in sich hinein. Er hängt so tief über der Eimasse, dass man weder sein Gesicht erkennen noch die geschickte Schaufelbewegung der rechten Hand bewundern kann. Jeff Goldblum – Die Fliege, denke ich, der gerade nach dem misslungenen Selbstversuch mit seinem neugewachsenen Insektenrüssel eine Suppe schlürft. Bäh. Ich widme ihm meine ganze Verachtung.
Der Tisch auf der anderen Seite ist belebt von einem munteren Völkchen aus dem Norden. Zweifellos. Alle blond, recht groß und mit scharfkantigen Gesichtern versehen. Das Leben im Norden scheint wahrlich nicht einfach zu sein, aber man macht das Beste daraus. Gelegentliche herüberflatternde Wortfetzen wie „Oukohänstalasyönytlyijykynähämäläinen“ oder so was Ähnliches stützen meine nordische Theorie. Ich tippe auf Norwegisch, Finnisch, Läppisch … Keine Ahnung.
Ihr etwa vier- bis fünfjähriger, blonder Sohn, der in einem vollständigen Superman-Outfit am Frühstück teilnimmt, wird an-dauernd und lautstark mit „Osgary!“ ermahnt, weil er eben nur Mist baut. Soeben hat er seinem Vater, der irgendwie abwesend wirkt und nicht am Leben der Familie teilzunehmen scheint, beide Toasts geklaut, um sie an die rund um uns herum lauernden Vorwurfsvögel zu verfüttern. Der Mann hat es aber in seinem Kummer nicht bemerkt, wundert sich jetzt nur traurig über das heute wohl etwas mager ausgefallene Frühstück. Neidisch blickt er auf die vollen Teller seiner läppischen Restfamilie.
Er ist scheinbar ein Mann, der sich Fragen stellt. Wie er zu dieser Familie gekommen ist, oder wie er in dieses Land gekommen ist. Möglicherweise ist er ein Professor, der an einem nicht lösbaren Problem verzweifelt, das er seit Jahren mit sich herumschleppt. Ein Virenforscher vielleicht, der mit dem Gedanken spielt, mit dem tödlichen Virus doch endlich einen Selbstversuch zu wagen, auch wenn er es mit dem eigenen Leben oder schrecklichen Entstellungen bezahlen muss, um endlich das dunkle Geheimnis lösen zu können. Ein unheimlicher Mann. Ich beschließe, ihn „Dr. Mabuse“ zu nennen.
Dann gibt’s da noch eine überaus laute sechsköpfige Primatenfamilie, die von einem gefährlichen Silberrücken beherrscht wird. Der Silberrücken, ein grauhaariger, groß- und grobgewachsener Mann von enormem Umfang, lacht ständig laut und rücksichtslos, offensichtlich über seine eigenen Brüller, und seine Familie lacht mit. Sie müssen wohl. Nach außen hin aber sind sie ein kreischender, fröhlicher Haufen, der mir jetzt schon gewaltig auf den Keks geht. Louis scheint der Silberrücken zu heißen. Jedenfalls nennt ihn seine Frau so. Also, King Louie. Alles klar.
Ganz hinten sehe ich unseren neuen Nachbarn mit seiner Frau. Das Ehepaar Lotze-oder-so .Sie sind auch eben erst angekommen. Trödler! Er winkt uns freundlich zu, während Frau Lotze traumatisiert auf ihr Spiegelei stiert, ohne es zu essen.
Da kommt Steffi aus der Toilette zurück und hat sich wohl einigermaßen gefangen. Sie sieht mich an, ist gestärkt und wieder hergestellt. Woraus man in einer stinkenden Toilette so viel Kraft schöpfen kann, ist mir zwar nicht klar, aber es hat offensichtlich funktioniert. Die Spuren ihrer bitteren Tränen sind beseitigt. Hat sie womöglich das gefährliche Wasser für ihr Gesicht benutzt? Kommt es hier aus allen Wasserhähnen? Ist sie schon so weit? Rüdiger Nehberg?
„Steffi“, sage ich und drücke ihre schönen, schmalen Hände, die ich so sehr mag, ach, eigentlich mag ich ja alles an ihr. Sie ist so perfekt, das wird mir erst jetzt mal wieder so richtig klar, auch ohne Löcher in den Ohren. „Ich wär auch drauf reingefallen, bestimmt.“
Sie lacht leise und sagt: „Okay, dann lass uns jetzt den verdammten Urlaub genießen. Ich mein’s ernst.“
„Okay, ich auch!“
Den ersten richtigen, bei vollem Bewusstsein erlebten Tag im Paradies wollen wir ganz langsam angehen lassen. Und nachdem wir Max mehrmals gefragt haben, wie es ihm denn so gehe, und er jedes Mal „alles cool“ gesagt hat, obwohl er immer noch etwas Temperatur hat und laut bellt, beschließen wir, es ihm zwar nicht zu glauben, aber es trotzdem erst mal zu versuchen.
„Ich muss noch mal schnell zur Rezeption“, sage ich unverfänglich und so wie ganz nebenbei, aber Steffi schaut mich skeptisch an.
„Was willst’n da?“
„Ach, äh … nur mal so informieren“, sage ich noch und bin auch schon weg. „Drei Minuten!“, rufe ich noch. Ich will sie ja schließlich überraschen mit einem tollen neuen Luxusbungalow mit Minibar und allem. Na, die werden staunen.
Leider, erklärt man mir in der Rezeption freundlich lächelnd, seien alle Bungalows belegt. Tausch nicht möglich. Und warum auch? Alle Bungalows seien ja schließlich gleich. Ja, aber es gäbe doch „Senator“ und „Deluxe“ und so, bringe ich entrüstet vor.
„No, no, all the same.“
Aha. Ein Ladegerät für mein Handymodell gäbe es auch nicht und man hätte auch keine Ahnung, wo man so etwas bekommen könnte.
Nicht. Aah so. Na gut. Dann eben nicht.
Aber man hätte ja schließlich hier in der Rezeption ein tadel- los funktionierendes Hoteltelefon.
Ja. Er zeigt mir, wo es hängt, und ich sehe einen veralteten Münzfernsprecher. Und auf die Frage, warum denn in unseren Bruchbuden kein Telefon wäre, zuckt er nur mit den Schultern und lächelt.
Man kann diesen freundlichen Menschen ja nicht so richtig böse sein.
„Also, dann lasst uns doch mal sehen, wie es hier so ist“, rufe ich meinen beiden fröhlich zu, als ich unverrichteter Dinge wieder zurück auf dem Frühstücksdeck bin, und klatsche albern und unternehmungslustig dabei in die Hände.
Erst mal so rumgucken, denke ich. Von mir aus auch blöd. Egal. Wir sind im Urlaub. Alle und alles kennenlernen, sich orientieren. Wo bin ich, wer bin ich, wo komme ich her, wo will ich hin, und was will ich hier überhaupt?
„Strand!“, ruft Max und er hat verdammt recht.
Natürlich. Genau. Erst mal zum Strand. Wenn der Strand gut ist, dann ist alles andere nur noch halb so schlimm. Dann erträgt man sogar Essen mit erheblichem Optimierungsbedarf und tödlich-braunes Leitungswasser. Also traben wir erwartungsfroh los – immer den fröhlichen „Beach“-Schildern nach.
Sie führen uns zunächst einmal runter zur belebten Straße, die man dann leider erst mal überqueren muss. Das ist nicht ganz so romantisch, wie es der Katalog laut Steffis Aussagen verkündete.
Im Prospekt stand „direkt am traumhaften Strand von Chaweng Beach“ und auf jeden Fall nichts von irren Geschwindigkeitsrekorden, die wahnsinnige Selbstmörder auf dieser Piste zu brechen versuchen. Das Traumhotel liegt aber, wie es der Name ja auch schon diskret andeutet, etwas oberhalb auf einem Felsen, den man aber nicht sieht, weil er von diesem Dschungelgrün total überwuchert ist. Egal. Wir haben Zeit und Urlaub, und schon nach einer angemessenen Weile haben wir auch raus, wie schnell die sich teilweise schleudernd und mit quietschenden Reifen annähernden Fahrzeuge in gefährlicher Distanz zu uns sind, und wenn die Lücke uns groß genug erscheint, dann wollen wir es wagen, erst mal einen von uns probeweise durch diese Hölle zu schicken.
Leider sind die braunen Stauseen der letzten Nacht noch längst nicht weggetrocknet, und so müssen wir immer wieder den gewaltigen, großartigen thailändischen Wasserspielen ausweichen, die die vorbeirasenden Fahrzeuge auslösen, und die Überquerung