Das Rätsel Seele. Hans Goller
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Rätsel Seele - Hans Goller страница 4
Darauf aufbauend, so Mumm, wird die Seele in der alltäglichen Rede zu einer Instanz verfestigt. „Die Seele eines Kindes ist keine einzelne intensive Empfindung, sondern der Inbegriff des Wahrnehmungs- und Empfindungshorizonts, den man einem Kind zutraut. In der Wendung Seele von Mensch bezeichnet Seele ebenfalls die Totalität eines Wahrnehmungs- und Empfindungshorizonts, allerdings nur in Bezug auf solche Menschen, denen man besonders viel Gutmütigkeit und Einfühlungsvermögen zutraut.“ (Mumm 2012, 182)
Über die Seele sprechen wir in Metaphern
Wir verfügen über eine Fülle von Redewendungen, um über die Zustände und Regungen unserer Seele zu sprechen. Dabei gehen wir stillschweigend davon aus, dass die Seele nichts Körperliches ist und folglich weder körperliche Eigenschaften noch Zustände haben kann. „Wie also ist es zu verstehen, wenn wir unsere Seele als ‚tief‘ oder ‚leicht‘ bezeichnen, wenn wir sagen, dass sie ‚bebt‘, ‚zittert‘, ‚spaltet‘ und ‚reißt‘? Wie soll etwas beben, das nicht körperlich ist? Wie kann es zittern und gespalten sein?“ (Di Franco 2009, 41) Alle diese Äußerungen meinen wir in einem übertragenen Sinn. Wir verwenden Bilder und Metaphern, um über die Seele zu sprechen.
Obwohl wir mit „Seele“ etwas Innerliches und Unkörperliches meinen, schreiben wir ihr körperliche Eigenschaften zu, etwa wenn wir sagen: Die Seele ist tief, sie ist abgründig und birgt viele Gefühle. Damit machen wir die Seele zu einem Gegenstand, zu einer Art Behälter für Gefühle. Diese Äußerung ist nur sinnvoll, wenn wir sie nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn meinen. Mit Ausdrücken für Körperliches beschreiben wir etwas Unkörperliches. Über seelische Zustände sprechen wir vorwiegend in Metaphern. Der Ausdruck „Metapher“ bedeutet, dass ein Satz oder ein Ausdruck nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn, also bildhaft, gemeint ist. Wenn es darum geht, etwas zu benennen und zu beschreiben, für das es in der Sprache auf Anhieb keine geeigneten Ausdrücke gibt, dann scheinen Metaphern ein besonders geeignetes Mittel der Rede zu sein. Di Franco betont wiederholt, dass wir gar nicht anders können, als in Metaphern über die Seele zu reden. Die Seele entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung in Raum und Zeit. Sie ist weder fassbar noch körperlich. Die Analyse der Metaphern der Seele zeigt, dass die Rede über das Seelische die Rede über das Körperliche voraussetzt. „Das Seelische ist nicht unabhängig vom Körperlichen zu denken, und über das Seelische, das Unkörperliche, kann nicht gesprochen werden, ohne vom Körperlichen zu reden.“ (Di Franco 2009, 98) Zu unserer metaphorischen Redeweise über das Seelische gehört auch das Sprechen darüber, dass Körper und Geist wechselseitig aufeinander einwirken. Die wissenschaftliche Untersuchung der körperlichen Seite des seelischen Erlebens erfolgt zurzeit sehr intensiv durch die Hirnforschung und die Neurowissenschaften (siehe Kapitel III). Die Beziehung zwischen Leib und Seele, Körper und Geist, ist Gegenstand der Leib-Seele-Debatte in der Philosophie (siehe Kapitel IV).
Die Metaphern, die wir in der Rede über die Seele verwenden, erschließen uns überhaupt erst den Bereich des Seelischen. „Es ist daher unumgänglich, metaphorisch über das Seelische zu sprechen. Nur mittels dieser und allenfalls weiterer indirekter Ausdrucksweisen kann das Unfassbare sprachlich fassbar gemacht werden.“ (Di Franco 2009, 110) Dass wir Gefühlsregungen und Seelenzustände überhaupt in Sprache fassen können, verdanken wir den Metaphern.
Das Seelische ist letztlich unbegreiflich. Trotzdem sprechen wir darüber, und unsere Rede über die Seele lässt sich auch darstellen. Beim Sprechen über die Seele verwenden wir indirekte und bildhafte Redensarten, mit deren Hilfe das Unfassbare für uns sprachlich fassbar wird. Das metaphorische Sprechen erschließt uns erst den Bereich des Seelischen. Die Seele selbst ist kein Gegenstand, der direkt beobachtet und erforscht werden kann. Seelisches äußert sich jedoch in körperlichen Erscheinungen, im Sprechen, im Verhalten und Handeln. Diese können Gegenstand psychologischer Forschungen sein (siehe Kapitel II).
Frühe Bilder und Vorstellungen von der Seele
Wann tauchen die ersten Vorstellungen von einer Seele auf? Welche archäologischen Funde und Befunde weisen auf die Existenz derartiger Vorstellungen hin? Allgemein gelten Bestattungen und Grabbeigaben als Beleg für den Glauben an ein Jenseits und an die Existenz einer Seele. Religiöse Handlungen und Rituale sind jedoch schwer empirisch nachzuweisen, weil sie nicht notwendigerweise archäologische Relikte erzeugen (vgl. Lang 2012). Sorgfältig gebaute Gräber und reiche Grabbeigaben gelten vielfach als Hinweis auf Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod. Erste derartige Bestattungen datieren in die Zeit ab etwa 120.000 v. Chr. „Mit dem Jungpaläolithikum (ca. 35.000–10.000 v. Chr.) entwickelte sich dann eine differenzierte Behandlung von Toten, bei der die Körperbestattung mit Beigaben in sorgfältig hergerichteten Gräbern den Glauben an ein Jenseits erschließen lässt.“ (Lang 2012, 81) Noch vor rund hundert Jahren, so Amei Lang, wurde die Existenz paläolithischer Gräber vehement bestritten. Manche Experten waren der Meinung, die Menschen der Eiszeit hätten keinerlei religiöse Ideen und Gefühle gehabt und der Tod hätte ihnen nichts bedeutet. Es hätte auch noch keinen Glauben an die Existenz einer Seele gegeben. Die moderne Religionswissenschaft kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und spricht den mittel- und jungpaläolithischen Bestattungen ebenso wie den Höhlenmalereien einen religiösen Hintergrund ab (vgl. Lang 2012, 81).
Wie lässt sich etwas Unsichtbares wie die Seele bildlich darstellen? Im Alten Ägypten gab es die Darstellung des Seelenvogels. Dieser Vogel war mit einem menschlichen Kopf ausgestattet, der dem Toten ähnlich sah. Der Seelenvogel war die bildliche Darstellung davon, was nach dem Tod eines Menschen als dessen Identität zu betrachten war (siehe Abb. 1). Aus dem Mittelalter sind Darstellungen bekannt, auf denen zu sehen ist, wie beim Eintreten des Todes einer Person ein kleines „Menschlein“ aus dem Mund entweicht (siehe Abb. 2). Die Seele stellte man sich vielfach auch als Tier vor, wobei vor allem Vögel als geflügelte Lebewesen die Seele repräsentierten. Der Schmetterling ist zum Beispiel ein frühes Sinnbild des seelischen Erlebens. „Vögel, Schmetterlinge und andere beflügelte Lebewesen drücken die Beweglichkeit und Lebendigkeit ‚beseelter‘ Organismen aus.“ (Hell 2009, 49) Ein frühes Symbol für die Seele ist auch der Hauch oder der Atem. Sowohl das hebräische Wort ruah (Ruach) als auch der griechische Ausdruck psyché bezeichnen den Atem.
Abb. 1: Die Ba-Seele als Vogel mit Menschenkopf
Abb. 2: Die Seele entweicht aus dem Mund eines Sterbenden (Holzschnitt von Jörg Nadler)
Der Sprachwissenschaftler Peter-Arnold Mumm weist allerdings darauf hin, dass das Wort psyché beim griechischen Dichter Homer, im Gegensatz zum klassischen Griechisch, noch nicht die lebendige, empfindende Seele, sondern die Totenseele bezeichnet. Von der Wortherkunft kann psyché nicht auf „atmen“ zurückgeführt werden, denn das zugrunde liegende Tätigkeitswort heißt blasen, kalt machen. Der Ausdruck psyché ist als Lehnbildung aus dem Akkadischen zu verstehen und bedeutet: wehen, blasen, kalt machen. In seiner vorhomerischen Bedeutung ist psyché als „windartiger Totengeist“ zu verstehen. Diese Vorstellung wurde ursprünglich aus Mesopotamien übernommen. Erst später entwickelte sie sich über die „Schattenseele“ zur klassischen Seelenauffassung, in der die Seele teils das Organ der Empfindung, teils vom Körper abtrennbar ist (vgl. Mumm 2012, 181). Psyché bezeichnet in seiner ältesten Überlieferung bei Homer nicht die Atemseele, den atmenden oder lebenden Menschen, sondern stets nur die Schattenseele, den Totengeist, also das, was vom Menschen übrig bleibt, wenn er aufhört zu atmen. Nach mesopotamischer Vorstellung verlässt der Atem mit dem Tod den Körper als Wind. Der Atem wird vom Leichnam fortgeblasen und begibt sich in seiner windartigen Natur in die Unterwelt. „Im Atem kann das Individuum sich spüren und sich seiner Lebendigkeit versichern. Der letzte Atemzug im Leben wird nicht als etwas angesehen, das keine Selbstvergewisserung mehr zulässt, sondern als verselbstständigte Selbstempfindung, die dann als wenig machtvoller Windgeist fortexistiert.“ (Mumm 2012, 186) In Mesopotamien umfasste der Totengeist